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Recht auf identitäres An-die-Wand-Fahren der eigenen Wirtschaft

Identitäres EuropaFelix Menzel ist Herausgeber der neurechten Jugendzeitung „Blaue Narzisse“. In letzter Zeit engagiert er sich des Weiteren als Vorkämpfer der identitären Bewegung, deren Ideen er als zukunftsfähigen Lösungsansatz für Europas Probleme begreift.

Auf der Website des Magazins findet sich seit einigen Tagen ein Leitartikel aus seiner Feder, „Identitäres Europa“. Dieser beginnt fulminant mit zwei Feststellungen in Appell-Form:

Europa hat kein Wohlstandsproblem! Europa hat ein Identitätsproblem!

Bereits hier zeigen sich grundlegende Verständnisprobleme der Identitären.

Erstens, das europäische Wohlstandsproblem existiert sehr wohl, und zwar sowohl in ideeller (das Wohlstandsgefälle in Europa wird vor allem von denjenigen auf der südlichen Seite des Gefälles als ungerecht und verbesserungswürdig angesehen) als auch praktischer Form (ohne Vergrößerung oder zumindest Erhalt des europäischen Wohlstands wird die kommende Vergreisung des Kontinents nur unter schrecklichen Opfern zu bewältigen sein).

Zweitens, das europäische Identitätsproblem ist ein Hirngespinst. Es gab schlichtweg niemals eine europäische Identität, die über Oberflächlichkeiten (weiße Hautfarbe) oder nicht europaspezifische Leitlinien (Christentum, Demokratie, Humanismus) hinausging. Alle Ideen von Substanz, die in Europa Ansehen genießen, können auch von Nicht-Europäern übernommen und gelebt werden. Es gibt keinen Grund, sich in seiner Verteidigung „europäischer“ Werte vom Rest der Welt abzugrenzen, solange man mit seinem Identitätsfetisch nicht bloß seine Fremdenfeindlichkeit überspielen möchte.

Menzel beschreibt in seinem Artikel daraufhin die deprimierende Lage der europäischen Staatshaushalte und Volkswirtschaften sowie die verärgerten Reaktionen der betroffenen Bevölkerungen auf vorgeschlagene Sparmaßnahmen. Er fragt den Leser:

Ist der Gemütszustand der Griechen denn so unverständlich? Welches Recht haben die Deutschen, die Europäische Union, die Troika oder wer auch immer, den Griechen vorzuschreiben, wie sie ihre Wirtschaft führen sollen?

Tatsächlich wurde den mediterranen Staaten lange komplett freie Hand bei der absehbar ruinösen Gestaltung ihrer Finanzen und Wirtschaftspolitik gewährt. Trotz nachweislich gefälschter Staatsbilanzen wurde Griechenland auf eigenen Wunsch der Zugang in die Eurozone gewährt. Und für etwa ein Jahrzehnt nach Einführung des Euro profitierte der mediterrane Club, dessen Staatsanleihen üblicherweise mit hohen Zinsen belastet waren, von Anlegeroptimismus durch den Verbund mit Deutschland: Die Zinsen glichen sich an das Niveau deutscher Staatsanleihen an, was von den Mediterranen als Einladung für noch weniger zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik verstanden wurde.

Nun könnte man nach Menzel jedem Staat das Recht auf identitäres An-die-Wand-Fahren der eigenen Wirtschaft zubilligen. Allerdings wandte sich Griechenland entgegen der klar formulierten Richtlinien in den entsprechenden europäischen Verträgen mit Hilfe- und Transfergesuchen an die Gemeinschaft. Dass eine solche Hilfe mit Auflagen verbunden ist, vor allem angesichts der wirtschaftlichen Vorgeschichte, dürfte klar sein.

Was fordert Menzel eigentlich? Bedingungslose Solidarität mit Griechenland aufgrund seiner Zugehörigkeit zum europäischen Kulturkeis, obwohl die nord- und südeuropäischen Vorstellungen von der Rolle von Wirtschaft und Politik sich offensichtlich grundlegend unterscheiden? Oder eine Auflösung der Solidargemeinschaft mit Griechenland, was überhaupt nicht zu seinem identitären Europafetisch passen würde? Er lässt es uns nicht wissen und setzt stattdessen mit Platitüden fort:

Für jeden identitär denkenden Menschen sollte klar sein, daß sich der Wert eines Volkes nicht nach der Wirtschaftsleistung bemißt. Jeder Identitäre muß Respekt vor dem Wirtschaftsverständnis anderer Völker haben.

Der Wert (oder vielmehr der Preis) einer Staatsanleihe bemisst sich jedoch nach der dem jeweiligen Staat zugrundeliegenden Wirtschaftsleistung, und über den Staat regelt die Bevölkerung wiederum die Finanzierung ihrer nicht vom Markt gelieferten Lebensqualität. Ohne Produktion kein Konsum, auch kein Konsum immaterieller Güter wie Sicherheit oder Gemeinschaftsgefühl. Geht das Essen aus, ist es schnell vorbei mit der Gemeinschaft.

Menzel fordert weiterhin Respekt ein. Vor was, muss man sich fragen? Vor Ergebnissen wohl nicht, denn diese sind alles andere als Vorzeigematerial. Vor Methoden ebenfalls nicht, wenn man sich das Ausmaß an Vetternwirtschaft und Vernachlässigung in den betroffenen Gegenden betrachtet. Vor der Selbstbestimmung auch nicht, denn diese wurde spätestens in dem Moment aufgegeben, als Drittparteien um finanzielle Hilfe gebeten wurden. Also, Herr Menzel?

Viel wichtiger als die Wirtschaftsleistung ist für einen Identitären der Erhalt der Kultur, der Überlebenswille des Volkes und die tatsächliche Lebensqualität.

Mit dem Begriff „Kultur“ hantieren Identitäre gern, denn er ist positiv besetzt und schwammig genug, um sich nicht festlegen zu müssen. Wird denn Kultur im heutigen Europa nicht erhalten? Welchen Schnappschuss aus der kulturhistorischen Geschichte möchten Sie denn konservieren, Herr Menzel, und warum? Und sollte Kultur sich auch noch weiterentwickeln dürfen, wie sie es seit Menschengedenken immer getan hat, oder in einem einbalsamierten Jetzt-Zustand in der Festung Europa zur Schau gestellt werden?

Mit dem Beklagen eines mangelnden „Überlebenswille[n] des Volkes“ beschreiben Identitäre ihre Missgunst gegenüber sinkenden Geburtenzahlen. Dass diese etwas mit der besseren Verfügbarkeit von Geburtenkontrolle und der Erreichbarkeit anderer Lebensmodelle als Gebärmaschine und Zeuger&Ernährer zu tun haben, also offenbar eher dem Willen des Volkes entsprechen als ständiges Reproduzieren, wird ausgeblendet. Im Übrigen ist die europäische Geburtenzahl nicht Lichtjahre entfernt vom Selbsterhaltungsniveau. Wer eine „Wachstumsideologie“ kritisiert, aber gleichzeitig wehmütig auf die Tage schielt, in denen die Durchschnittsfrau noch 10 Kinder gebar, ist ein Heuchler.

Ähnliches ließe sich über die „tatsächliche Lebensqualität“ behaupten. Wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Leben in einer prä-modernen Gesellschaft subjektiv angenehmer gewesen sein soll als heute – und objektiv war es das ganz bestimmt nicht.

Europa muß in erster Linie eine Schutzmacht gegen die Islamisierung und die selbstzerstörerischen Kräfte der modernen Zivilisation sein.

Was Menzel hier fordert, ist die Errichtung einer geistigen Umzäunung gegen alles, was nicht seiner Definition des „Europäischen“ entspricht. Wobei nicht einmal das korrekt wäre, denn große Teile der modernen Zivilisation entstammen der europäischen Gedankenwelt. Schutzwall nach außen und innere Säuberung – das kommt in einem sehr negativen Sinne bekannt vor.

Zuletzt unterstützt Menzel seine Idee von der Festung Europa noch durch das Zitat des antiamerikanischen Neurechten Alain de Benoist und geht dann aalglatt auf ein gänzlich anderes Konzept vom „Europa der Regionen“ über:

Während andere ihr Leben lang warten, packt der Regionalist dort an, wo er es kann und vertritt sein Projekt mit seinem Namen und seinem Gesicht.

Eine europäische Käseglocke, in der außerhalb des örtlichen Rahmens Zusammenarbeit nur in Ausnahmefällen vorgesehen ist. Eine komplette Verwerfung von knapp 100 Jahren globaler Integration zum Erhalt einer nicht näher bestimmten „Kultur“ – das ist die identitäre Plattform, wenngleich man zwischen den Zeilen lesen muss, um dies aus der hochtrabenden Rhetorik über Identität und Selbstbestimmung zu entziffern.

Anmerkung der Redaktion: Ein gewisser „non-identitär“ hat diesen Beitrag ins Internet gestellt, ohne dabei seine wahre Identität preiszugeben. Aus unserer Sicht ist die Kritik von „non-identitär“ bestens geeignet, den Diskurs über ein Identitäres Europa bzw. „Europa der Regionen“ fortzusetzen.

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