Rezension

Sieferle: Epochenwechsel (I)

Neulich bekam ich von einem unbekannten Geber ein Exemplar der scharfsinnigen, weitblickenden Analyse der Moderne des ehemals an der Universität St. Gallen lehrenden Zeithistorikers Rolf Peter Sieferle (1949-2016).

Der schon verstorbene Verfasser titulierte sein 1994 herausgebrachtes Werk Der Epochenwechsel: Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Sieferle wendet sich an die politischen und ideologischen Strömungen, die seit der Französischen Revolution emporgekommen sind. Einen Scheinwerfer richtet er auch auf die „verschlungenen Pfade“, wo diese Tendenzen gegeneinanderprallten und zeitweise ineinandergriffen.

Hegels Optimismus, Sieferles Pessimismus

Dem Philosophen Hegel entlehnt Sieferle sein Denkmuster, da er in seinem Großessay darangeht, „das Schlachtfeld der Geschichte“ seinem Leser zuliebe heraufzubeschwören. In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ geht Hegel drauflos, die tragische und gegensätzliche Seite des selbstexponierenden Weltgeistes zutage zu bringen. Widerstreite und Kriegshandeln werden als die dialektischen Mittel ausgedeutet, wobei der Endzweck des irdischen Geschehens erreicht werden kann.

Letztendlich kommt der sich windende vom Weltgeist gesteuerte Geschichtsablauf auf eine Staats- und Gesellschaftsordnung an, die die Freiheit des Einzelnen, das Gemeinwohl eines selbstbewussten Volkes und die Bewahrung überlieferter zwischenmenschlicher Beziehungsformen in einer Synthese aufgehen lässt. Hegel hält eine konservative, verfassungmäßige Monarchie in Ehren, eine auf seine Epoche abgestimmte preußische Regierungsart, die ein protestantisches Gepräge trägt. Er schildert die Vorstufen dieses Endpunkts als einen verlängerten, konfliktvollen Vorgang, der in seiner eigenen Gegenwart gipfelt.

Obwohl Sieferle Hegels dialektischen Gesichtspunkt zweckmäßig einsetzt, bleibt ihm der Optimismus seines Vorgängers fern. Wo Hegel einen göttlich angeordneten Weltplan seinem Leser erläutert, verlagert Sieferle den Akzent auf zusammenprallende Ideengestalten, die zu keinerlei glücklicher Zukunft hinüberleiten. Sieferle wertet den genau verstandenen Konservatismus als eine ausgereizte Triebkraft seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Wegen seiner Einbettung in einer von Adligen beherrschten Agrargesellschaft und seiner Verteidigung einer angestammten Rangordnung konnte ein echtkonservatives Kampflager dem Aufstieg der industriellen Wirtschaft und der Verstädterung der Bevölkerung kaum standhalten.

Die Dauerbedeutung der Ideologien

Sieferle besteht (nach meiner Meinung) mit Recht auf der Forderung, ideenpolitische Bezeichnungen in begrenzten historischen Zusammenhängen anzusiedeln.  „Liberal“ und „konservativ“ gelten bestimmt  nicht als ungebundene Denkzettel, deren Sinndeutung von modischen Journalisten bestimmt werden sollen. Sie beziehen sich auf Gegenüberstellungen, denen eine Dauerbedeutung anhaftet. Daher scheint es höchst problematisch, wenn nicht unredlich, schon vermoderte politische Standortbezeichnungen zweckverfremdend anzuwenden, zum Beispiel wenn Angela Merkel und ihre Ja-Sager sich als „Konservative“ angeben, weil sie für die „Menschenrechte“ werben.

Was bitte hat die jeweilige deutsche Staatsträgerin mit Konservativen des neunzehnten Jahrhunderts, wie etwa die preußischen altkonservativen Gebrüder Gerlach, die für eine ständische Ordnung eintraten, gemeinsam? Und was hätten selbstbeschriebene liberale Großbürger des deutschen Zweiten Reiches und diejenigen des Wienerischen Kulturlebens des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts mit den heutigen umtriebigen LGBT-Fürsprechern, die ebenso nachdrücklich als „Liberale“ firmieren, gemeinsam? Fabrizierte Kontinuitäten erwecken den falschen Eindruck, daß eine überkommene ideenpolitische Landschaft herrscht, wenngleich die betreffenden Termini auf eine grundverschiedene Zeitlage gemünzt wurden.

Die Verdrängung des Konservatismus

Sierferle fokussiert drei Orientierungspunkte, die während des Verschwindens eines echten Konservatismus auftraten: Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus. Diese drei betraten mit einem ihnen angemessenen Programm die historische Bühne. Die Sozialisten marxistischer Herkunft traten zum Kampfplatz als Vorboten einer von der Arbeiterschaft anzustoßenden Weltrevolution an. Die Nationalisten dagegen stemmten sich im Namen ihrer Völker den Internationalisten oder Antinationalen entgegen.

Der wohlhabende Mittelstand derweilen erhob das Individuums zum geistigen und sittlichen Mittelpunkt seiner Denkwelt und fieberte einem ihm ebenbürtigen Weltbürgertum entgegen.  Nationalisten und Sozialisten verband dagegen die kämpferische Haltung und der Aufruf zur Gruppensolidarität. Obwohl die Sozialisten auf einen historischen Endpunkt hinarbeiteten, wo sich der Nationalismus einer internationalen Gemeinschaft der befreiten Arbeiter beugt, fühlten sich die Sozialisten bemüßigt, kurz- und mittelfristig eine streitbare Frontstellung auszubauen. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand darin, daß Sozialisten wie Nationale den liberal gesinnten Bürgerstand unter Beschuss nahmen.

Aus dieser Gemeinsamkeit, so Sieferle, ergab sich die Möglichkeit, Grundelemente der beiden widerstreitenden Ideologien zu verschmelzen, ein Verfahren, das in die Vorstellung einer Konservativen Revolution und zuletzt in den Faschismus, Nationalsozialismus und in postkoloniale Diktaturen hinauslief. Die Sozialisten und Nationalisten, so Sieferle, verdrängten den echten Konservatismus und stehen zueinander, wie auch feindlich, in einer deutlichen Wechselbeziehung.

Demokratischer Kapitalismus

Sieferle hätte es erwähnen sollen, daß auch bei den Liberalen im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts eine vergleichbare Verschmelzung zuwege kam, als sie ihre weltbürgerliche Haltung zugunsten des Nationalismus aufgaben. Das passierte nicht nur in Mitteleuropa sondern auch in England und anderen westlichen Ländern.

Eine neuere ideologische Verschmelzung, die Sieferle auflistet, heißt der „demokratische Kapitalismus“, der mit der Ausdehnung der amerikanischen Hegemonie in Europa einhermarschiert. In diesem zur Zeit weltanschaulichen Spitzenreiter lassen sich ein ausufernder Kapitalismus, der keine Landesgrenze anerkennt, mit dem Plan einer weltdemokratischen Revolution, die in der Französichen Revolution ihren Anlauf machte, vereinen.

Hinter dieser forttreibenden Ideologie steht die Wucht der amerikanischen Machtstellung, deren Förderer den besiegten Deutschen ihre Visionen nach dem Zweiten Weltkrieg einimpften. Sieferle beleuchtet Deutschlands Blöße angesichts dieser amerikanischen Einflussnahme und wie sie mit der Besonderheit der Deutschen als schuldhafter, selbstverachtender Nation Hand in Hand verfuhr.

Dieser Beitrag wird in Kürze fortgesetzt.

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Bildhintergrund: Regina Sieferle (privat)CC-BY-SA 4.0

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