Rezension

Im Namen der Revolution: Die Abschaffung der Demokratie

Im April 2017 erschien ein schmales Bändchen des bulgarischen Politologen Ivan Krastev mit dem Titel „After Europa“ auf Englisch. Wenige Monate später folgte die von Michael Bischoff besorgte deutsche Übersetzung unter dem Titel „Europadämmerung – Ein Essay“ bei edition suhrkamp.

Schon die Geschwindigkeit der Übersetzung lässt nichts Gutes erahnen. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, werden wichtige Bücher seit Jahrzehnten nicht mehr übersetzt, Symptom einer weit verbreiteten geistigen Stagnationsphase. Die aufgebrauchten Gedankenlosigkeiten aber müssen schnell unter die Leute gebracht werden, damit nur ja keine besinnliche Langeweile aufkommt.

Eine Pflichtlektüre für Politiker, tönt es allerorten, „Krastev riskiere die Totale, einen umfassenden Blick auf die Lage Europas“, so Gustav Seibt von der Süddeutschen – mit dem Totalen könnte Seibt sogar recht haben, aber anders, als er vermutet. Und Frau von Thadden von der ZEIT sieht gar die „politische Illusionslosigkeit mit der Schönheit des Gedankens“ zusammentreffen. Selbst der Rezensent der Jungen Freiheit (Michael Dienstbier) ist voll des Lobes und liest wegen ein paar kritischer Bemerkungen aus der Europa-Dämmerung die Merkel-Dämmerung heraus. Haben die eilfertigen Lobhudler überhaupt gelesen, was sie da mehr oder weniger hymnisch feiern?

Demokratie abschaffen, um Europa zu verwirklichen?

„Revolution und Demokratie sind gegensätzliche Begriffe“, schrieb Raymond Aron schon 1955 in Opium für Intellektuelle angesichts der Begeisterung der Linken für Gewaltorgien im Namen revolutionärer Herstellung ganz neuer Wirklichkeiten. Der seit der Französischen Revolution erfahrbare Widerspruch zwischen Revolution und Demokratie tritt erneut deutlich hervor und tatsächlich fordert Ivan Krastev 2017 ganz unverblümt die Abschaffung der Demokratie, um das große revolutionäre Projekt Europa in seiner Verwirklichung nicht zu gefährden. Ist die Richtung der einen Geschichte erst einmal gewiss, heiligt der Zweck jedes Mittel, ein Grundzug europäischer Geschichte seit den Kreuzzügen. Anlass genug, sich das Machwerk des liberalen Politikberaters Krastev einmal genauer vorzunehmen.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt, der freundliche ältere Mann im weißen Kittel bittet sie Platz zu nehmen, kramt  dann schweigend in seinen Schubladen, holt ein Fläschchen von diesem und eine Packung  von jenem hervor und beginnt das Gespräch mit seiner therapeutischen Vorschrift: Hiervon eine jeweils abends und davon dreimal über den Tag verteilt. Wahrscheinlich würden Sie verdutzt fragen: Aber Sie haben doch noch gar nicht gefragt, wo mir der Schuh drückt?  Was auf den ersten Blick absurd klingt, hat Methode, es markiert den Unterschied zwischen Vor- und Nachdenkern.

Vor- und Nachdenker

Vordenker sind Vor-Denker, weil sie vor allem eines nicht sind, nämlich Nach-Denker. Sie können keine Nachdenker sein, weil sie ihrer Zeit weit voraus sind. Sie sind dort, wo die anderen nicht sind. Sie sind abgesondert von den anderen weit vorne oder weit oben, aber in jedem Fall nicht da, wo die Musik spielt. Sie sind nie zur rechten Zeit am rechten Ort. Nachdenken setzt Gegenwärtigkeit, setzt Wahrnehmung, setzt Erfahrung voraus. Vordenker aber nehmen nicht wahr, was ist, sondern orientieren sich an dem, was sein soll, aber (noch) nicht ist.

Abgesondert von den anderen verstehen sie sich selbst als die eben gerade nicht von den anderen, sondern der Geschichte oder dem Höchsten auserwählte Avantgarde, sind aber ohne das Mit-Handeln der anderen ohnmächtig. Ohne Macht bleibt ihnen nur die Gewalt. Deshalb selektieren Vordenker die Wirklichkeit nach dem, was der Verwirklichung ihres großen Plans im Wege steht. Sie spalten die angesichts einer existenzbedrohenden Gefahr gewöhnlich entstehende politische Gemeinschaft noch vor ihrer Konstituierung als politischem „Wir“ nach Freund und Feind, nach Revolutionären und Konterrevolutionären, nach links und rechts.

Den so als Fortschrittshindernis identifizierten Feind müssen sie zwangsläufig beherrschen, bekämpfen und bekriegen. Die Vorstellung vom Weltbürgerkrieg entsteht gleichursprünglich mit der einer nicht mehr kreisförmig umlaufenden, sondern in einer Richtung nach vorn fortschreitenden Revolution (Roman Schnur). Vordenker erkennt man häufig daran, dass sie von Projekten reden: dem Projekt der Moderne, dem Projekt Europa. Projekt kommt von lateinisch proiectum, das nach vorn geworfene.

Apokalyptische Gegenwart

Europadämmerung ist demnach das, was dem großen nach vorn geworfenen hellen Licht Europa im Wege steht und deshalb schleunigst weggeräumt werden muss, bevor es zu spät ist und alles in der Nacht, in der bekanntlich alle Katzen grau sind, verschwindet. Als erstes muss also ein möglichst drastisches apokalyptisches Szenario entworfen werden und zwar nach dem Motto, je schrecklicher, desto besser, dann wird die vorgeschlagene Gefahrenabwehr umso leichter in Kauf genommen.

Je größer die Spanne zwischen Verlust und Gewinn, desto mehr ist man bereit, voll ins Risiko zu gehen. Es geht um Psychologie, nicht um Realität. Krastev entledigt sich dieser Aufgabe durch den dezenten Hinweis auf die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz-Ferdinand im Juni 1914 in Sarajewo. Unter der Hand soll also der Eindruck erzeugt werden, Europa stehe 2017 am Vorabend der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Drastischer geht es nicht.

Ob dergleichen Behauptungen irgendein Erfahrungs- oder Wirklichkeitsgehalt entspricht, spielt keine Rolle, wie gesagt, es geht um Psychologie. Als nächstes müssen getreu der Logik des Klassenkampfes die Linken von den Rechten, die Guten von den Bösen selektiert werden. Die beiden folgenden Kapitel sind daher überschrieben:  „Wir, die Europäer“ und „Sie, das Volk“. Man ahnt schon, was kommen wird. Die erfahreneren Leser wissen spätestens an dieser Stelle, dass man sich den Rest dieses grandiosen Essays sparen kann, das Ganze ist so gedankenlos berechenbar, wie alles, was in letzter Zeit aus dieser Ecke kommt. Es werden nur die immer gleichen theoretischen Versatzstücke hergenommen, einmal durchgemischt und neu zusammengepuzzelt.

Die Verschnullerung Deutschlands

Aus der Verwechslung religiöser mit politischen Leidenschaften entstand das liberale Großprogramm einer totalen Entpolitisierung. Die Menschen im Westen sollten auf das Niveau von Bedürfnis-Stoffwechsel-Tierchen rückgezüchtet werden, im großen Menschenpark an der Nabelschnur globaler Bedürfnisbefriedigungsanstalten sich ausschließlich um ihr privates Selbst kümmern, das Leben so lang wie möglich erhalten, für nichts mehr aufs Spiel setzen und alles andere getrost den Experten überlassen, die schon wissen werden, was zu tun ist.

Nietzsche war der Erste, der gegen diese als Emanzipation verklärte Erniedrigung des Menschen protestiert hat. „Man stirbt nicht für die Zivilisation“, bemerkte der Pole Brandys verächtlich, als er Ende 1980 zu Besuch in Berlin weilte und um sich herum nur noch verängstigte Deutsche sah. Wahrscheinlich gibt es außer Deutschland kein anderes Land, das seine eigene Verschnullerung freudig begrüßt und eine – politisch gesprochen unfähige – Kanzlerin vorauseilend gehorsam „Mutti“ nennt.

Der eitle Sonnenschein und ewige Frieden im globalen Menschenpark erschien nach der Implosion des ideologischen Feindes 1989 für kurze Zeit möglich, erwies sich aber als verfrüht. Das Phänomen der massenhaften Migration hätte, so Krastev betont kritisch, beim „Ende der Geschichte“ noch keine Rolle gespielt, mit ihr aber erwache die Revolution (endlich) wieder zu neuem Leben. Die Geschichte der totalen Entpolitisierung ist noch nicht zu Ende – die letzte, die finale Schlacht muss erst noch geschlagen werden.

Liberale, friedliche Weltordnung verliert an Plausibilität

Was die Frontstellung heute jedoch verschärft: das liberale Versprechen einer weltweiten zivilen Gesellschaft, die ganz von selbst und ohne Zutun der Beteiligten ihre friedliche Ordnung aufrechterhält, verliert merklich an Plausibilität, wenn plötzlich inmitten all der verkindlicht Friedfertigen, die ihr bloßes Leben zum höchsten Gut erkoren haben, Barbaren auftauchen, die aus nichtigsten Anlässen heraus ihr erfolgreich entheroisiertes Gegenüber gewaltsam zu Tode bringen.

Zwar haben die linken Wünschelrutengänger auf der verzweifelten Suche nach dem „revolutionären Subjekt“ bislang alles Mögliche gefunden – nur kein revolutionäres Subjekt, aber dergleichen Erfahrungsgehalt ficht einen Krastev nicht an. Besinnungslos hält er an der längst an der Wirklichkeit gescheiterten Konstruktion fest und deklariert flugs die Migranten zum „revolutionären Subjekt“ des 21. Jahrhunderts. Peinlich nur: Migration gibt es, seit es Menschen gibt, denn schon die Nachkommen der wunderbaren Lucy wanderten vor etwa 90.000 Jahren aus Afrika aus und besiedelten unter anderem den europäischen Kontinent.

Revolutionen aber sind ein Phänomen der europäischen Moderne. Von Revolution im Sinn einer totalen Ersetzung der vorhandenen durch die zu verwirklichende Wirklichkeit – der neue Mensch – kann erst seit der und durch die Französische Revolution gesprochen werden. Während denkende Historiker wie Furet daher längst vom Ende der Französischen Revolution sprechen, träumt Krastev unverdrossen von ihrem Endsieg.

Migranten als Agenten der Revolution

Sind unterschiedlichste Menschen, die von A nach B wandern, erst einmal revolutionäres Subjekt, erübrigt sich die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung ihres Tuns. All die politischen Erörterungen, ob die Gegenden, aus denen sie abwandern, die Gegenden, die sie durchwandern, oder die Gegenden, in die sie einwandern, durch ihr Wandern wohnlicher werden, sind plötzlich überflüssig. Als Agenten der Revolution exekutieren sie das Gesetz, das der einen universellen Geschichte ihre Richtung vorschreibt. Ihre eigentliche Bedeutung liegt jetzt in der Hervorbringung jener hegelschen Negativität, welche die Geschichte zum Fortschreiten antreibt, indem sie zum Krieg aufruft, der, wie Hegel von Heraklit lernte, der Vater aller Dinge ist.

Folgerichtig muss die berechtigte Frage, ob die fortschreitende Islamisierung einer vordem unbeschwert genießenden Gesellschaft für die Aufrechterhaltung des Landfriedens von Vorteil ist, von den „Pawlowschen Feuilletonpudeln“ (Klonovsky) als Wiederauferstehung des Faschismus umdefiniert und mit aller Radikalität bekriegt werden. Elementare Bestandteile der deutschen Verfassung sind bereits faktisch außer Kraft. Die Gewaltopfer, die den Preis für diese Wirklichkeitsverleugnung bezahlen, sind kaum noch zu zählen. Aber das ist nur das Vorspiel.

Die Feindschaft von Liberalen und Demokraten

Hatte man bislang Europäisierung und Demokratisierung als parallel verlaufende Prozesse gedacht, sogar Demokratiedefizite als entscheidendes Hindernis einer weitergehenden europäischen Integration wahrgenommen, hat sich die Lage durch die „Flüchtlingskrise“ grundlegend verändert. Die philosophische Idee der Europäischen Union, die in der Aufklärung wurzelt, kann sich dem Urteil der anderen nicht länger aussetzen (Krastev, S. 76). Wird das Volk gefragt und stimmen die Mehrheiten der Bürger der Europäische Union nicht zu, geraten Europa und Demokratie in jene feindselige Spannung, die das Verhältnis der Philosophie zur Politik von Anfang an auszeichnet.

Liberale und Demokraten stehen sich gegeneinander verbarrikadiert und durch einen Graben getrennt feindlich gegenüber. Wer jetzt noch von liberaler Demokratie spricht, hat nicht verstanden, was auf dem Spiel steht. Der gewöhnlich gut verdeckte polemische Charakter der Aufklärung (Koselleck) tritt wieder offen zutage.

Europäische Union und Demokratie, so Krastev, geraten in einen fundamentalen Widerspruch, denn die Demokratie könnte das europäische Projekt zerstören. Die revolutionären Migranten bringen nämlich in den Ländern der Europäischen Union eine Gegenrevolution hervor und zwar nicht nur vereinzelt. Genügten früher temporär entstehende und wieder vergehende Protestparteien, um kurzfristig Dampf abzulassen, reicht das heute nicht mehr.

Das Volk als Gefahr für das „Projekt Europa“

Mit demokratischen Mehrheiten erwachsen dem liberalen Masterprogramm urplötzlich politische Gegenkräfte, die so nicht vorgesehen waren. Der Versuch einer totalen Entpolitisierung gerät an seine Grenze und bringt wieder Menschen hervor, die sich Sorgen um den Erhalt und den Zustand ihres Landes machen. Im Vergleich mit dem bisherigen Rechtsstaat schneidet die Scharia deutlich schlechter ab. Da möchte man das gute alte Recht doch lieber behalten.

Tatsächlich lehnen demokratische Mehrheiten eine derartig unkontrollierte Zuwanderung ab. Was politisch gesprochen erwünscht, pragmatisch gesehen, eine gesunde Skepsis, soll aber durch den philosophisch-hegelschen Kurzschluss als reaktionär bestimmt und damit als fortschrittshemmend bekriegt werden. Wenn die eine Vernunft herrschen will, müssen die Stimmen der Vielen zum Schweigen gebracht werden. Das politische Volk wird zur selbstmörderischen Gefahr für das philosophisch definierte Projekt Europa (S. 125).

Durch die Migration wird die Demokratie als zu überwindendes (in Hegels Sprache: aufzuhebendes) Übergangsstadium in Richtung auf die Herstellung der EINEN Menschheit sichtbar, erweist sich doch plötzlich die Demokratie angesichts der Einwanderung nicht mehr als immer weitere Räume integrierend, sondern als Instrument einer ausschließenden Begrenzung, die sich auf den eigenen Raum zurückbesinnt, dessen Ordnung massiv gestört ist und wieder eingerenkt werden muss.

Die nächste Stufe der Globalisierungsrakete

Demokratische Mehrheiten sind mit diesem logischen Kunstgriff in die Rolle des von der Geschichte überholten Bourgeois hinein definiert. Mithilfe der Migranten kann jetzt endlich die nächste Stufe der Globalisierungsrakete gezündet werden. Zwar ist die eine Menschheit als ideale Vorstellung letztlich nichts anderes als ein einziger Mensch in massenhafter Form, ein einsamer, autistisch onanierender Gott par excellence, hat aber als Ideal unter den Gedankenlosen scheinbar nichts von seiner Faszination eingebüßt.

Dass die revolutionären Aufbrüche, die aus dem gigantischen Trümmerfeld der Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges heraus entstanden sind, in weiteren apokalyptischen Katastrophen endeten, scheint an Krastev spurlos vorübergegangen zu sein. Hat ihm diese Geschichten niemand erzählt? „Seit 1789 gibt es nur noch gescheiterte Revolutionen“, heißt es dazu in Rolf-Peter Sieferles Epochenwechsel.

Eingeschlossen in den Gitterstäben seines Gestells begegnet sich der Mensch nur noch sich selbst. Der vordergründige „Kampf gegen rechts“ im Namen eines universellen Wertekanons entpuppt sich als politischer Vernichtungskrieg gegen die Demokratie als solche. „In den neuen Gewaltexzessen steht nicht der ‚Faschismus‘ wieder auf, sondern der Liberalismus wird in ihnen vollendet und kommt damit zu einem Ende“, so Sieferle. Die Klügeren unter den Nachdenklichen haben mit dieser Erkenntnis bereits nach der Konfrontation mit der totalitären Erfahrung angefangen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf www.hannah-arendt.de.

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