Die Frage, welche sich im Endeffekt stellt, ist natürlich: Warum ist eine Tat wie die in Halle geschehen? Wovon ist sie ein Symptom und was wird durch sie ausgedrückt? Ist sie das Resultat des Erstarkens rechter Politik, wie es uns unsere Gegner gerne glaubhaft machen wollen?
Der Anschlag in Halle war in der Tat kein „Einzelfall“, sondern reiht sich in Hinsicht der Methodik, der medialen Inszenierung und der dahinterstehenden Psychologie des Täters in eine Reihe ein, die sich von Taten wie Christchurch und Utoya bis hin zu School Shootings und islamistischem Terror ziehen lässt. Es sind Taten, welche die Gemeinschaft, in der sie stattfinden, destabilisieren wollen. Sie verfolgen kein konkret politisches Ziel, sondern sind zunächst einfach der Angriff auf eine Gruppe oder Individuen, die rein symbolisch ausgewählt werden.
Angriff auf Alltagsräume
Cafés, Nachtclubs, Flughäfen, Passanten, Mitschüler oder im Fall von Halle, zufällig in einer Synagoge anwesende Juden, die rein aufgrund dieser Tatsache als Ziel herhalten. Die Macht, die der Täter seinem Ziel unterstellt (Zitat: „Die Wurzel all dieser Probleme“), beißt sich mit seinem tatsächlichen Anschlag – einer kleinen unbewachten Synagoge irgendwo in Halle. Ebenso wie bei islamistischem Terror und sogenannten Mass Shootings, werden keine Zentren der Macht, sondern Alltagsräume angegriffen.
Die Täter wiederum sehen sich als an den Rand gedrängte Outlaws, die nichts zu verlieren haben. Und während dies bei manchen in sozioökonomischer Hinsicht tatsächlich stimmen mag, wirkt es in vielen anderen Fällen auf den Außenstehenden zunächst wie ein reines Hirngespinst. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Angriff auf die Gesellschaft, der Traum von der Apokalypse, die der Täter in seine Umgebung hinein verwirklichen will, vielleicht etwas verrät.
Denn auch wenn die Täter nicht selten aus eher höheren sozialen Schichten stammen, ist es dennoch auffällig, wie sie aus dem sozialen Umfeld ihrer Umgebung herausfallen und aus dieser Position heraus handeln. Es sind Menschen, die ihre Bindung zu ihrer Familie, ihren Straßen, und den gesellschaftlichen Institutionen verloren haben, und die, sich alleine diesem großen Nichts gegenüber gesetzt sehend, zum Angriff auf eben jene Strukturen blasen, in denen sie so ziellos umherirren.
Kein Glaube, keine Hoffnung
In anderen Worten: Die Täter sind Menschen, die an nichts mehr glauben und nichts mehr erhoffen und darum die reine Zerstörung wollen. Ernst Jünger sprach während des Nationalsozialismus einst vom Lemuren; von einem Typus Mensch, der besessen ist von einem obszönen Vernichtungswillen und diesem wie eine Maschine folgt.
Die Täter sind das Produkt einer atomisierten Moderne. Und doch geschieht sowohl beim islamistischen wie auch beim rechtsextremistischen Terror etwas Merkwürdiges. Obwohl die Täter Ausdruck dieser Moderne sind, nehmen sie in ihre Aussagen und Zielsetzungen für sich in Anspruch, eben jene Epoche zu bekämpfen. Der Traum von der Wiedergeburt des Kalifats bestand schließlich darin, die auf viele Staatsgebiete zerstückelten, verwestlichten und demoralisierten Muslime wieder in eine Gemeinschaft zurückzuführen. Und doch hat der Islamische Staat, der aus diesem Versuch entstand, sehr wenig mit seinem historischen Vorbild zu tun. Vielmehr ist er in seinem Zynismus und seiner Menschenverachtung unverkennbar ein Produkt des Krieges im 21. Jahrhunderts.
Pervertiert-antimoderne Moderne
Er ist das, was im 20. Jahrhunderts der Nationalsozialismus darstellte, der in seinem Bestreben, den Verheerungen der Moderne eine Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches entgegenzusetzen, doch nur eine pervertierte Version dessen darstellte. Der Nationalsozialismus war im Endeffekt unverkennbar modern, angefangen bei seiner biologistischen Ideologie, der Technologiebegeisterung, bis hin zur der totalitären, alle Lebensbereiche durchdringenden Struktur, die weder dem Individuum noch abweichlerischen Gruppen Freiraum ließ. All dies, während die offizielle Propaganda stets das Organische und das natürlich Gewachsene verherrlichte.
In beiden Fällen verknüpft sich diese pervertiert-antimoderne Moderne zudem mit ethnischen Feinbildern, denen ein blanker Vernichtungswahn entgegengebracht wird – etwas, was den historischen islamischen Reichen sowie dem Heiligen Römischen Reich völlig unbekannt war. Dieser genozidale Drang ersetzt in beiden Fällen schließlich jegliche Systemkritik – die globale Finanzwirtschaft, der Kapitalismus, der Westen – die eigentlichen Systeme, welche hinter der Zerfaserung der Moderne bestehen, werden einfach ethnisch umcodiert und an die Stelle der Erschaffung gesunder Alternativen tritt der ethnische Konflikt. Halle, der IS und der NS: Sie alle sind zynische, amoklaufende Versuche Abgründe zu bekämpfen, indem man selbst noch abgründiger wird.
Die Frage, die sich nun stellt, ist demnach: Wie entziehen wir uns diesem Spiel? Ich denke, es geht nur vernünftig und empfindsam. Wir wollen in unserem Kampf nicht zynisch werden. Wir sollten uns bewußt sein, dass das, was wir wollen, legitim und gerecht ist. Wir wollen Systeme bekämpfen, keine Ethnien. Wir wollen nicht pöbeln und stänkern, sondern gesunde solidarische Gemeinschaften erschaffen, an denen der Fluch der Moderne vorbeizieht. Wir wollen glauben.
(Bild: Innenstadt Halle)
1 Kommentar zu “Späte Betrachtungen zu Halle: Der genozidale Drang”