Gesichtet

Unsere Sensibilität für Einzelschicksale (II): Die Opfer

Abgesehen von „Menschenleben“ ist „Opfer“ das Schlüsselwort schlechthin für Einzelschicksale.

Das ganze auf Unmengen von Einzelschicksalen aufgebaute Opferunwesen zeigt: je nachdem, wer was für ein Interesse anmeldet und welche Absicht er damit verfolgt, gibt es entweder Opfer oder Nichtopfer. Letztere können bei effektivem Ausbleiben des Schicksals schon mal unter die Täter fallen. Umgekehrt werden Mörder, wie der im ersten Teil des Artikels erwähnte Flugzeugabstürzler Andreas Lubitz, von Menschen, die viel zu gut sind für diese Welt, in ihrer Großzügigkeit mit zu den Opfern gezählt.

Dadurch aber tritt notwendig das Schicksal auf den Plan: Der Wirkungszusammenhang wird missachtet, die Wirklichkeit selbst erscheint irrational, sowohl die Macht des Bösen als auch menschliche Schuldfähigkeit werden verneint. Böse Handlungen können einem als wesentlich gut begriffenen Menschen nicht mehr angemessen zugeschrieben werden. Mit letzterem aber ist niemand mehr wirklich verantwortlich für seine Taten. Alles wird irgendwie zum „Missgeschick“.

Kategorien und Hierarchien von Opfern

Es gibt Kategorien von Opfern, d.h. Opfer, die mehr rühren als andere: Kinder; schöne junge Frauen; Mütter; schwangere Frauen, überhaupt Frauen; danach die mit Schönheit begnadeten Menschen; „gute“ Menschen – darunter zähle ich auch nützliche, für die Gesellschaft wertvolle Menschen –; Familienväter; Glückspilze – zu denen gehören auch Menschen, die Erfolg hatten oder denen etwas Gutes bzw. der Erfolg noch bevorstand –; Pechvögel; wehrlose Menschen; alte Menschen; junge Menschen, die „ihr ganzes Leben vor sich hatten“.

Auch gibt es eine Hierarchie der Opfer, je nachdem, wie schade es um die jeweilige Person war. Wie schade es war, ist kein spontanes Empfinden, sondern hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab sowie von einer Öffentlichkeit, die von den Medien wie auch von der Politik sensibilisiert worden ist: Genauso, wie es Opfer erster Klasse gibt, gibt es daher auch Opfer zweiter Klasse sowie Nichtopfer, die ihr schlimmes Schicksal mehr oder minder verdient haben.

Bedeutung und Sinn des Opfers

Schlüsselwort für Einzelschicksale ist überhaupt das des Opfers. Dabei wirft allein schon dessen Etymologie ein bedeutendes Problem auf: „Opfer“ (lateinisch offerenda), das ist eigentlich eine Gabe, ein Dargebot, ein Zoll oder auch ein Preis, zu entrichten „in Blut“ von einer Kultusgemeinschaft an die Götter. In seiner ursprünglichen Bedeutung ist das Opfer also weder Zu- noch Unfall und auch nicht Schicksal im Sinne von unabwendbarer böser Fatalität, sondern weltlich-überweltliche Notwendigkeit: von ihm hängen Wohl und Wehe der Gemeinschaft ab.

Wer nun und in welcher Form den Göttern geopfert werden soll, ist eine Entscheidung, in der Menschliches, Göttliches und Natürliches zusammenwirken, entweder um ein Übel abzuwenden, oder aber um ein Wohl herbeizuführen oder beides. Das Schicksal selbst tritt zwar auch hier auf den Plan, ist aber kein blindes, und damit recht eigentlich ohnmächtiges, welches willkürlich und irre, nach Art einer teuflischen Lotterie, mit den Menschen herumtollte: es ist selbst Gottheit, mindestens aber göttlicher Einfluss (Wille) auf die menschlichen Geschicke.

Das heidnische Schicksal, das sinnvolle Opfer fordert und hervorbringt, stimmt hier mit der jüdisch-christlichen Vorsehung überein: die Wege Gottes sind genauso unergründlich wie sein Ratschluss, darum aber nicht etwa sinnlos, sondern auf ihre eigene, für den Menschen unerklärliche Weise, voll von Sinn und Rat. Der Sinn ist hierbei allerdings überweltlich, der Rat göttlich („Gott ist niemals ratlos“). Sowohl im Heidentum als auch im Christentum wird daher der Glaube gefordert.

Alternativlosigkeit ergibt sich von selbst aus der Unvernunft der Wirklichkeit

Wichtig für das moderne Opferverständnis, das den Einzelschicksalen zugrunde liegt, ist, dass „unsere Opfer“ jeglicher Notwendigkeit zu entbehren scheinen. Sie stehen in keinem Zusammenhang mit Göttern, damit aber auch in keinem Sinnzusammenhang. Einzelschicksale haben keinen verstehbaren Sinn, sie sind „sinnlos“, was die emotionale Reaktion auf sie verstärkt: „ihr Tod war sinnlos“; „er wurde Opfer sinnloser Gewalt“; „sinnlose Zerstörung“; „das ist alles so sinnlos“, …

Das alles sind sowohl Auslöser als auch Verbalisierungen von Unlustgefühlen allerhöchster Intensität. Dem Unlustgefühl zum Trotz sind Einzelschicksale objektiv und ungläubig besehen nichts anderes als bloße Reibungsverluste im mechanischen Weltengang. Sie sind nichts, an das man glauben könnte, sondern etwas, das man (schon) in Kauf nehmen muss, weil die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind und nicht anders. Mit diesen Voraussetzungen macht sich die notwendig subjektive Erlebniswelt und Erfahrungswirklichkeit Einzelner anheischig, die ganze objektive Seinsordnung zu schlucken und sogar zu ersetzen: die Wirklichkeit wirkt unvernünftig, die Idee eines totalen Status quo drängt sich auf.

Mit beidem ist zugleich gegeben die relative, oder auch absolute, Alternativlosigkeit bei Inkaufnahme aller Risiken, inklusive der nichtvorhersehbaren. Überhaupt gehört das Risiko als ein nicht auszumerzender Rest von Gefahr und Unsicherheit mit zum Leben. Wie reimt sich das alles nun mit dem Schicksal sowie dessen Sinnlosigkeit?

Die Welt, ein Schlachthof resignierter Gutmenschen

„Schicksal“, das ist zunächst einmal eine Pseudowesenheit, d.h. eine Unterstellung von Persönlichkeit zur Fassbar- und Begreiflichmachung eines für gute Menschen Unfassbaren und Unbegreiflichen. Mit dem Hinweis auf „Schicksal“, „Zu-“ bzw. „Unfall“, lassen sich diese ach so guten Menschen auch wirklich gut abspeisen. Die Leute wollen so etwas auch eher hören als „Das müssen Sie schon in Kauf nehmen, wenn Sie hier und jetzt leben wollen“; „sie haben keine Alternative“ oder „unsere Nachlässigkeit, Ihr Schaden.“

Das „Schicksal“ ist nämliche nicht „an sich“, sondern nur für diejenigen Menschen (vor)gedacht, welche die Zusammenhänge, vor allem die Wirkungszusammenhänge, und damit die Risiken, nicht sehen. Politiker und Journalisten, die, anstatt das Schicksal zu bedienen, mehr oder minder unverblümt von dem Risiko bzw. von der Wahrscheinlichkeit redeten, mit der jemand zum „Opfer von Gewalt“ oder bloß eines Unfalles wird – eine Wahrscheinlichkeit, welche notwendig immer eine rechnerische ist –, würden sofort als Zyniker und Fatalisten entlarvt.

Ihre Töne sind ja auch alles andere als harmlos, fordern sie doch vom Bürger, dass er sich in sein Schicksal ergibt bzw. fügt: sie verlangen Resignation, Fügsamkeit also, ohne eine Grenze dafür festzulegen, wie weit diese zu gehen hat. Geduld sowie Ordnungs- und Ruhebedürfnis des braven Bürgers, der auch immer ein guter Mensch ist, sind schon von sich aus unendlich und grenzenlos, und wäre die Welt sein Schlachthof!

(Bild: Pixabay)

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