Während Europa geistlich verödet, erlebet die christliche Kultur in Russland eine überwältigende Renaissance. Ist das Zufall oder die Schuld des Relativismus?
Über Die Zukunft der Tradition nachzudenken, ist in Zeiten relativistischer Fortschrittsprojekte gewagt. Dass es einem russisch-orthodoxen Bischof durchaus gelingen kann, dies mit Gewinn zu tun, zeigt Metropolit Hilarion in einer Textsammlung, die jetzt unter diesem Titel im Landt Verlag erschienen ist. Alle Texte sind Reden und Vorträge, die der „Außenminister“ des russisch-orthodoxen Patriarchats in den vergangenen vier Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten hielt.
Sie beschäftigen sich in der einen oder anderen Weise mit der Tradition und ihrer Zukunft in einer zeitgeistigen Welt, in der Christentum und Familie in Europa ins Hintertreffen geraten sind. Im Gegensatz zu den Staaten Europas, die sich nach Meinung Hilarions der satanischen Ideologie des Relativismus verschrieben haben, blüht das christliche Leben in Russland in einer seit langer Zeit unbekannten Intensität. Seit dem Untergang des Sowjetreiches vor mehr als einem Vierteljahrhundert sind dort 26.000 Kirchen neu oder wiedererrichtet worden. Das sind immerhin drei Kirchen pro Tag.
Der sittliche Verfall lähmt Europa
Wenn der Metropolit, der auch als Professor für Dogmatik an der Universität in Fribourg lehrt, Europa einen sittlichen Verfall vorhält, dann erfolgt das aus einer Position der Stärke. Die Orthodoxie zeigt aus seiner Sicht den hohen Wert einer festen Gründung in der absoluten Sittlichkeit des Christentums. Diese dürfe nicht aufgegeben werden, um einem wie auch immer gearteten Zeitgeist zu gefallen, denn die Sittengesetze seien Gesetze Gottes. Ein besonderer Dorn im Auge sind ihm hier etwa die Konsumgesellschaft oder die liberale Beliebigkeit im Umgang mit homosexuellen Partnerschaften.
Der Prozess der Säkularisation habe dazu geführt, „dass ein Großteil der Europäer sein Leben nicht an den Vorgaben des Evangeliums, sondern nach den Standards der ‚Konsumgesellschaft’ ausrichtet“. Der sittliche Verfall und der Ersatz Gottes durch den Mammon fallen für ihn also zusammen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er in Fragen der Ökumene gegenüber den protestantischen Glaubensgemeinschaften kritisch eingestellt ist, die beispielsweise homosexuelle Partnerschaften gutheißen und ihnen sogar abspricht, noch christlich zu sein. Hier dürfe sich die Kirche keinem romantischen Ökumenismus hingeben.
Säkularismus schädigt die menschliche Seele
Diese Haltung könnte ein unbedarfter Leser der Texte von Metropolit Hilarion für übertrieben halten. Denn was sollte schon schlimm daran sein, wenn Männer Männer und Frauen Frauen lieben, ist die ketzerische Frage des Säkularismus. Solange dies eine rein äußerliche Angelegenheit bleibt, wäre dies für Hilarion zumindest kein Thema der Kritik. Jedoch sind die Menschen für ihn keine rein äußerliche Angelegenheit und ihr Handeln in der Gesellschaft „eine Widerspiegelung dessen, was in den Seelen der Menschen vor sich geht“.
Der Verlust der Sittlichkeit stellt für ihn deshalb letztlich einen Verlust der Bindung zu Gott dar und mehr noch eine gegen Gott als dem Stifter der Sittlichkeit gerichtete Sünde. Für jemanden, der nicht an Gott glaubt, ist dies möglicherweise unproblematisch. Als Leser der Texte von Hilarion mag er sich denken, dass es ja gut und schön ist, von Gott zu sprechen und mit ihm eine Heilserwartung zu verknüpfen, aber sich selbst davon nicht angesprochen fühlen. Das ist sein gutes Recht und Hilarion will niemanden bekehren. Das ist auch gar nicht notwendig, um zu erkennen, „dass man die Europäer ihrer eigentlichen Kultur beraubt, wenn man der europäischen Kultur mit Gewalt die moralische Dimension entreißt. Es geht unserer Meinung nach hier um eine Selbstvernichtung der europäischen christlichen Kultur, deren Stelle eine in sittlicher Hinsicht neutrale, in vielen Fällen jedoch offen und demonstrativ unsittliche Pseudokultur einnimmt.“
Toleranz und Pluralismus fordern ihr Opfer
Niemand würde wohl die Existenz einer moralischen Leerstelle in der deutschen Gesellschaft bestreiten, wie sie auch in den meisten anderen europäischen Staaten existiert. Spätestens seit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hat diese Leerstelle verstärkt an Brisanz gewonnen. Diese zeigt sich in der unbedingten Verpflichtung, den Göttern der Toleranz und des Pluralismus zu opfern, wobei die persönliche Meinung und der eigene Glaube keine Rolle mehr spielen. Wer dieses Opfer verweigert, der muss mindestens mit seiner sozialen Ausgrenzung rechnen.
Für Hilarion bestehen hier deutliche Parallelen zum Heidentum und zum Kommunismus. Während im heidnischen Rom der Glaube Privatsache war, solange nur den Göttern geopfert wurde, setzte der Kommunismus auf die unbedingte Opferbereitschaft gegenüber der Staatlichkeit. Wenn Hilarion in diesem Zusammenhang schildert, dass Lehrer in der Sowjetzeit den Schülern Kreuze von Hals rissen, wenn sie eine Kette unter ihren Hemden erkannten, dann zeigt das nicht nur eine schwache Parallele zu einem europäischen Verfassungsvertrag ohne Gottesbezug oder dem Verbot von Kreuzen in deutschen Klassenzimmern. Insgesamt lesen sich alle in dem Band versammelten Texte als ein Plädoyer, den Relativismus zu überwinden und aus dem EU-Ghetto einer satanischen und antichristlichen Politik auszubrechen. Dann hat auch die Tradition als „die Fülle der Erfahrung aller christlichen Generationen“ in Europa wieder eine Zukunft
Metropolit Hilarion (2016): Die Zukunft der Tradition. Gesellschaft, Familie, Christentum. Landt Verlag, Berlin. 296 Seiten. 38 Euro.
(Hintergrundbild: gemeinfrei)
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