Anstoß

Deutsch-jüdischer Totentanz

„Alles sei in ewiger Vergessenheit begraben.“ Dieser Paragraph des Westfälischen Friedens von1648 besiegelte das Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die europäischen Mächte vereinbarten juristisch, auf alle Schuldzuschreibungen und Strafmaßnahmen für vergangene Kriegshandlungen zu verzichten, um das große Leid der Vergangenheit zu vergessen, was aus ihrer Sicht eine wichtige Voraussetzung für die künftige politische Ordnung auf dem Kontinent war.

Immer schon in der Weltgeschichte war Vergessen wichtiger als Erinnern. In jedem Friedensvertrag hatte es eine Vergessensklausel gegeben über die Verbrechen, die man sich gegenseitig angetan hatte. Sie sollten vergessen werden, um in Zukunft friedlich zusammenleben zu können. „Die Oblivionsklausel war Element vieler europäischer Friedensverträge in der Neuzeit. Sie besagt, dass nach einem Krieg beide Seiten das Kriegsgeschehen vergessen würden. Auch die Ursachen und Folgen des Krieges sollten keinen Anlass zu weiteren Streitigkeiten geben“, heißt es dazu bei Wikipedia.

Versailles ist eine Zäsur

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter totaler werdender Kriege verbunden mit Massenpropaganda und Massenmobilisierung, verlor diese kluge und zukunftsorientierte Vorgehensweise im europäischen Völkerrecht stark an Bedeutung.

Artikel 231 des Versailler Friedensvertrags ist eine Zäsur: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“

Nach dem neuen völkerrechtlichen Verständnis konnten also Staaten sowohl für ihre Kriegsverbrechen als auch für die Schuld am Kriegsausbruch verantwortlich gemacht werden. Es löst damit ein Rechtsverständnis ab, das die europäische Geschichte von der Antike an mehr als zwei Jahrtausende lang geprägt hatte. Als Konsequenz dominierte die Schockwirkung des Kriegsschuldparagraphen 231 das politische Denken und Handeln seiner Zeit in Deutschland.

Der Beginn des Schuldkultes

Heute, 100 Jahre später, hält der deutsche Historiker Heinrich August Winkler Ansichten über die nur bedingte Schuld der Deutschen am Ausbruch des Ersten Weltkriegs für „gefährlich postdemokratisch“, was wohl bedeuten soll, dass Abstriche am Schuldkult die nationale Einheit und nationale Sicherheit Deutschlands gefährden.

Flankiert werden Ansichten dieser Art gerne von Geistlichen der besonderen Art. In einem Beitrag für den evangelischen Pfarrerverband zur Auschwitz-Gedenkkultur fällt dem evangelisch-lutherischen Theologen und Friedensforscher Hans-Jürgen Benedict ein, dass im 5. Buch Mose 25, 17–19 „Israel aufgefordert wird, des Bundes mit Gott zu gedenken, des Auszugs aus Ägypten, der Segnungen im gelobten Land, aber auch seiner Vergehen in der Wüste und der Untaten der Feinde.“

Der Fehler im Bild ist allerdings, dass nicht nur in dieser Bibelstelle nicht, sondern in der gesamten Bibel Gott niemals die Menschen dazu auffordert, an ihre eigenen Vergehen zu gedenken. Gottes Zusage steht doch fest: Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres versenken (Micha 7,19).

Zahllose Bibelstellen wie Ich werde deine Sünden auswischen und nie wieder daran denken (Jesaja 43,25), Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten will ich nicht mehr gedenken (Gott in Hebräer 10, 17) zeigen, dass Vergeben und Vergessen ein biblisches Prinzip ist. Mit der Verfälschung eines Bibelzitats, die den kompletten Sinn der Bibel ins Gegenteil verkehrt, und Geschichte als ewigem Brandmal kappen der Theologe Benedict und der Historiker Winkler ihre kulturellen Wurzeln zu den Griechen und zur Bibel. Übrig bleibt Schuld nicht mehr in Beziehung auf Vergebung gedacht, sondern als deutsches Schicksal.

Nach vorn schauen und nicht zurück

Die deutsche Historikerin und Professorin für russische Geschichte, Jutta Scherrer, wundert sich, dass die historische Aufarbeitung der Sowjetzeit nicht nur an der Elitenkontinuität, sondern auch an einem weit verbreiteten Desinteresse in der russischen Bevölkerung scheitert. Sie sagte dem Spiegel: „Es wurde mir in Russland immer wieder das Bibelwort ‚Lasst die Toten ihre Toten begraben‘ entgegengehalten. Selbst junge Intellektuelle, die Putin kritisch gegenüberstehen, sagen, sie wollten nach vorn schauen und nicht zurück.“

Selbst junge Intellektuelle?! – Als ob man nur als ausgewiesener Dummkopf der rückwärtsgewandten, deutschen Erinnerungskultur nichts abgewinnen dürfte, die darauf abzielt, die Gegenwart als eine nicht vergehende Vergangenheit erscheinen zu lassen, was nach dem Sozialphilosophen Peter Furth zu „einer pathologischen Konfusion der Zeiterfahrung führt“.

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“, dichtete einst Hermann Hesse. Obwohl Stufen das Lieblingsgedicht der Deutschen ist, verharren sie konsequent auf der gleichen Lebensstufe. „Die Erinnerungsorte sind an der Belastungsgrenze. Mehr als 70 Jahre nach Kriegsende besuchen immer mehr Menschen die Schauplätze der Nazi-Gräueltaten. Fast eine Million Besucher aus der ganzen Welt zählt etwa die Dachauer KZ-Gedenkstätte im Jahr. Etwa ein Drittel davon sind Schulklassen. An manchen Tagen laufen bis zu 1000 Schüler über das Gelände“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, findet sich auf Glückwunschkarten zur Geburt eines Babys oder für Hochzeiten. Man könnte auch meinen, dass jede neue Generation das Recht und die Freiheit haben sollte, den Zauber eines Neuanfangs für ihre Generation zu verwirklichen.

Wer impft die Bundeskanzlerin gegen Antisemitismus?

Nicht so in Deutschland, wo die Frage, ob Besuche für Jugendliche in Deutschland in Holocaust-Gedenkstätten zur gesetzlich verankerten Pflicht werden sollen, keine neue Frage ist. Zuletzt gab sich die CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer davon überzeugt, dass der Besuch einer Gedenkstätte auf jedem Lehrplan stehen muss. Wird die beschlossene Impfpflicht gegen Masern auf eine Impfpflicht gegen Antisemitismus und Fremdenhass erweitert, indem der Staat Schüler durch ehemalige Konzentrationslager schleift?

Annegret Kramp-Karrenbauer mag in ihrer seligen Selbstvergessenheit daran erinnert werden, dass der Antisemitismus zur Nazizeit ein staatlich verordneter Antisemitismus von oben war. Und wer wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel regelmäßig von der Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk in Israel redet, weist Juden nicht nur ethnische Merkmale zu, sondern impliziert auch, dass die eigentliche Heimat der Juden Israel ist. Wer impft die deutsche Bundeskanzlerin gegen Antisemitismus?

In meinem Hauseingang liegt eine Einladung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu einem Gedenkgottesdienst an den 1. September, des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Aber wer in Deutschland weiß schon von der erzwungenen Flucht von knapp einer Million Deutscher aus dem plötzlich polnisch gewordenen „Korridor“ in der Zwischenkriegszeit, also vor dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf Polen? Und wer weiß von den ca. 550.000 polnischen Juden, die zwischen 1933 und 1938 aus Polen fliehen mussten, ein erheblicher Teil davon auf dem Transitweg über Deutschland?

Die Heiligung eines Massenverbrechens

Statt einer rationalen Analyse der Geschehnisse wird das Gedenken mit Versprechen und Bedeutung aufgeladen. Es ist nicht mehr der Gott des Alten Testaments, der einzigartig, unvergleichbar und undarstellbar ist, sondern der Holocaust. Wenn aber ein Massenverbrechen geheiligt wird – und im Gedenken an es „die rituellen Formen der Andacht, des Mitgefühls, des Taktes und der Schicklichkeit dominieren“, wie der Sozialphilosoph Peter Furth meint –, können dessen Opfer nur Auserwählte gewesen sein. Und hier schließt sich der Kreis derjenigen Deutschen, die einen Kult um tote Juden treiben, zu denen in der Nazizeit, für die Juden die ganz anderen waren.

„Ähnlich wie Exodus und Sinai-Offenbarung sowohl grundlegende Bedeutung für das jüdische Verständnis von Geschichte und Gedächtnis hatten und demzufolge in Fest, Ritual und Liturgie seit Jahrtausenden erinnernd vergegenwärtigt werden, ebenso wird der Holocaust im jüdischen Gedächtnis mittels Ritual und Liturgie erinnernd bewahrt“, schreibt der Autor Christoph Münz. Sehr wahrscheinlich auch für die nächsten Jahrtausende. Da aber Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist, haben sich die Juden mit der religiösen Inszenierung des Holocausts, den sie aus unterschiedlichen Erwägungen längst zu ihrem Holocaust gemacht haben, einen schönen Götzen gebacken.

Kein Gott, nirgends. Schon gar nicht in Israel.

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