Rezension

Ernst Jünger: Siebzig verweht II

„Siebzig verweht II“ ist in vielerlei Hinsicht ein besonderes Buch. Trotz starker „Entkoppelung“ des alten Anarchen, kann man einiges lernen. Auf „Einmischungen“, wie sie von Heinrich Böll „erwünscht“ waren, verzichtet Ernst Jünger fast vollkommen.

Jüngers bekannte und beachtete Spätwerke, Annäherungen (1970), Die Zwille (1973) und Eumeswil (1977), sind bereits geschrieben oder werden im Verlauf des zweiten Alterstagebuches fertiggestellt. Auch der erste Band von „Siebzig verweht“ wird veröffentlicht. Dies hat für Jünger lediglich Randbedeutung, die Arbeit als sein hauseigener Chronist muss weitergehen. Dazu Eindrücke, Philosophien, Reisen durch die unfassbare und fassbare Welt.

Diesen Schritt gehen allerdings die wenigsten Leser mit. Nicht viele schaffen den Sprung von Siebzig verweht I zum Nachfolgebuch, das die Jahre 1971 bis 1980 umfasst. Kein Wunder: Der Ertrag ist begrenzt. Jünger wird alt. Noch älter, als er ohnehin schon ist. Man könnte sagen: „Er hat endgültig kein Bock mehr auf den ganzen Scheiß“, schluckt es aber im Angesicht des sprachlichen Ästheten lieber herunter. Jünger steht damit in krassem Gegensatz zu seiner Nachfolgegeneration, die 68er-Schriftsteller, die sich in die Zeit einmischten und diese erfolgreich prägten.

Politischer Chronist?

Dies ist wohl der bedeutendste Unterschied, den Ernst Jünger beispielsweise von Heinrich Böll trennt. Böll, von vielen als „Chronist der Nachkriegszeit“ bezeichnet, mischt sich aktiv ins tagespolitische Geschehen ein, bezieht zumindest Stellung. Jünger verzichtet darauf und distanziert sich von Bölls Maxime „Wir Autoren sind die geborenen Einmischer“. Eingemischt hat sich auch Marcel Reich-Ranicki, der als führender Literaturkritiker über Jahrzehnte die Lektüre der Bundesrepublik mitbestimmte.

Er habe „zu Gunsten von Büchern manipuliert“, wie der „Literaturpapst“ 1989 zugab. Ernst Jünger war Reich-Ranicki „zuwider“, selbst wenn er andere über den Autor der Stahlgewitter schreiben ließ. Auch Gerd Gaiser, ebenfalls „vorbelasteter“ Romancier, wurde von Reich-Ranicki und Co. nicht behandelt. Diese förderten die Rolle Heinrich Bölls als „Galionsfigur der Literatur“.

Über seine Rolle als bundesrepublikanische Randfigur wird Ernst Jünger jedoch alles andere als unglücklich gewesen sein, war sie zu größtem Teile schließlich selbst gewählt. Jünger blieb wohl, auch aus persönlichen Gründen, „neben dem System“, wie er es in einer Art Leitsatz häufig formulierte, der ihm als moralischer und philosophischer Kompass diente. Leider endet Siebzig verweht II zwei Jahre vor der Verleihung des Goethepreises an den alten „Anarchen“, der die Nation in Aufruhr versetzte und ihn aus seinem Wilflinger Domizil lockte. Ob er sich im dritten Teil zu aktuellen Äußerungen hinreißen lassen wird, bleibt abzuwarten.

Neben der Zeit

Wo heute die Heinrich-Böll-Stiftung im Herzen Berlins aktivste Politik, man könnte auch Propaganda dazu sagen, macht, hat sich die „Ernst-Jünger-Stiftung“ und die „Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft“ der musealen Instandhaltung Jüngers Wohnhauses und der „Förderung und wissenschaftlichen Erforschung des literarischen Werkes der Jünger-Brüder“ verschrieben. Sie befinden sich in der geistigen Tradition Jüngers und leben vom gleichen Privileg wie dessen Spätwerk: Die Möglichkeit neben der Zeit zu stehen. Der Standpunkt des Autors ist, abseits von Tagespolitik und Querelen, schärfer, klarer, aber auch weiter entfernt.

Als junger Leser schmerzt diese Haltung. Nur mit wenigen Worten spricht er die 68er-Bewegung an, die kiffenden Hippies, die ihm im Süden über den Weg laufen oder das moderne „Linkssein“ als politisches Eichmaß. Die Verschiebungen der Geschichte und der Politik werden nur sanft gestreift. Zur Geiselnahme in Teheran und dem Sturz des Schahs gibt es lediglich einige Sätze. Andeutungsweise gibt er seine Abneigung zur modernen Zeit bekannt, so beispielsweise in Ausschnitten der Briefe an seinen Freund Martin Heidegger, den er „tröstet“ bei diversen Ehrungen übergangen und außen vor gelassen zu werden. Der Nationalsozialismus hängt ihm neuerdings nach.

Sprachlich speckt Jünger mehr und mehr ab. Natürlich nicht zum Schaden der Präzision. Etymologisch vergessenes Wissen, ein Wortschatz von kosmischer Größe und eine literarische Stilsicherheit „höchsten Ranges“ zeichnen sein Alterswerk aus. Fragmentarische Sätze. Gedankliche Auseinandersetzungen mit den Übertragungen in andere Zungen – so erwähnt er, dass er seinen Stil auch deshalb reduziert, um besser übersetzbar zu werden. Ein Vorgriff auf möglichen Ruhm über die deutsche Sprachwelt hinaus?  Eine Andeutung zur kommenden, technisierten und schnörkellosen Sprache?

Jünger driftet aus der Welt

Selbst seine kalte Abneigung gegen die moderne Technik wird immer seltener behandelt. Eine Einschätzung, dass Deutschland in fünf Teile gespalten ist, wozu auch die verlorenen Ostgebiete zählen, ist bereits eine der „schärfsten“ Anmerkungen zur Lage der Nation. Jünger driftet Stück für Stück aus der Welt. Seit Jahrzehnten. Zumindest literarisch. Briefe, Lektüre, Sagenwelt, Religion und Geschichte schwirren durch die Aufzeichnungen, teilweise auf so hohem Niveau, dass man ohne fundierte literarische Bildung kaum mitkommt.

Selbst Google hilft nicht immer weiter – ist auch sicher nicht im Sinne des Autors. Die Realität beim späten Jünger schrumpft auf ein Mindestmaß zusammen, stattdessen Altersüberlegungen, zahlreiche Reisen, Literatur und Mythologie, seine regelmäßigen Träume, die geliebten Käfer. Auch die Einschläge kommen näher – Freunde und Bekannte sterben, sein Bruder Friedrich Georg scheidet dahin.

Jünger, der schon immer ein Meister der Andeutungen war, deutet noch mehr an, denkt in Jahrhunderten und Jahrtausenden, kommt bei Gott an und entfernt sich wieder. Gelegentliches Wundern darüber, wie lange der eigene Körper noch mitmacht. Alles, womit alte Leute sich befassen – mit höchstem Anspruch. So liest man das zweite Alterstagebuch mit weniger Gewinn als die meisten Werke Jüngers. Was aber in jungen Jahren nichts heißen will.

Die Devise muss lauten: Ab ins Regal und verstauben lassen. Siebzig verweht II darf man nicht mit dem Mähdrescher lesen, die Rückkehr zur Sense ist geistige Voraussetzung. Wenn man schließlich so nah wie Jünger an der 100 steht, kommt Durchgang Nummer zwei – wohl mit deutlich größerer Ernte. Zeitlich verspekulieren darf man sich natürlich nicht.

(Bild: Ernst Klett der Jüngere (links) und Ernst Jünger in den 80er Jahren. Von: Archiv der Ernst Klett AGCC BY-SA 4.0)

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