Rezension

Sieferle: Epochenwechsel (III)

In seinem Buch „Epochenwechsel“ macht Rolf Peter Sieferle klar, was aus den globalistischen Umständen hervortreten muss:

„Wenn die neue Ordnung nicht primär nach der Unterscheidung zwischen einzelnen Nationalstaaten sondern zwischen vagen Gruppierungen globaler Gewinner und Verlierer angelegt ist, so wird sie gewissermaßen entterritorialisiert. Die ältere (nationale) Einheit von Volk, Raum und Staat zerbricht, ohne daß eine neue (globale) Einheit von Menschen und Weltstaat in Sicht wäre. Die neue Ordnung könnte sich daher nach völlig anderen Prinzipien struktuieren, als sie in der Tradition des neuzeitlichen europäischen Nationalstaats üblich geworden sind.“

Wegweisend bei dieser Ausführung ist der Einfluss von Carl Schmitt. Wie Schmitt hält sich Sieferle die Aussicht offen, daß die Verdrängung des Nationalstaats zu einer neuen politischen Ordnung, wie unliebsam sie auch sein mag, hinüberführt: „Diese sich abzeichnende neue Ordnung ist aus der Perspektive des alten Territorial- und Rechtsstaatsprinzips offen und chaotisch, doch wäre es sicherlich übertrieben, in ihr lediglich das Element der Auflösung zu erblicken. Die wirklich spannende Frage lautet dann, wie sich das Verhältnis zwischen der alten nationalstaatlichen und der neuen globalisierten Ordnung gestalten wird.”

Wohlfahrtsstaat und Nationalstaat

Hierzu muss man fragen, ob Sieferles letzte Zuflucht für Verlierer, eine Leistungen spendende Wohlfahrtsregierung, und der ältere Nationalstaat, der Raum und Volk vereint, eigentlich dasselbe sind. Das ist ohne Zweifel eine bestreitbare These. Die europäischen, mit ihren historischen Wurzeln und stammesmäßigen Bezügen versehenen Nationalstaaten und eine bloß versorgende Anstalt, die sich in erster Linie um die heutige Arbeiterklasse kümmert, sind weder begrifflich noch historisch gleich. Es ist nicht besonders glaubwürdig, die nationalstaatliche Geschichtserscheinung zu einer Anwendung des Nützlichkeitsprinzips zu reduzieren.

Sieferle verschafft dieser Ansicht Geltung, weil sie seiner Thesenausführung dient. Sein Staatsbegriff ist aus Hobbes Leviathan abgeleitet und hat mit organischen Verwandtschaften und Vaterlandsliebe gar nichts zu tun. Er verlegt sich auch auf eine typisch deutsche antifaschistische Befindlichkeit, wenn er die „verstaubten Symbolen“ der deutschen nationalen Vergangenheit kurzerhand abtut und auf die „historische Nähe“ eines deutschen Nationalgefühls zu dem nationalsozialistischen Missgeschick anspielt.

Kämpfe der Vergangenheit, Kämpfe der Zukunft

Eine Schmittsche Thematik, die Sieferle in seine Zeitanalyse eingliedert, ist die Darstellung der Angriffspunkte, um die ausgeprägten Gegensatzformen verschiedener Zeitepochen zu kennzeichnen. Schmitt folgend, macht Sieferle die überlagernde Bedeutung der Wirtschaft im Zusammenhang der Spätmoderne vorrangig. Wie die Religion und Politik in früheren Zeitaltern das Zentralgebiet hergeben, worum die damaligen Freund-Feind-Beziehungen sich verdichteten, brachte das zwanzigste Jahrhundert Widerstreite hervor, die um Produktivkräfte und ihre Benutzung Gestalt annahmen. In einem dialektischen Verhältnis mit der Arbeiterschaft standen die Besitzer der Großindustrie und die Kapitäne des Finanzkapitals. Aus diesem Gegensatz entsprang eine Epoche, in welcher Sozialisten und Bürgerparteien einander entgegenstanden.

In der Nachfolge dieses zeitalterübergreifenden Gegensatzes trat ein neuer Konflikt an, der um die Technik und deren sachgemäßen Gebrauch kreist. Wie im vorausgegangenen Zeitalter kämpfen sich die Streitenden um materielle Angelegenheiten. Jedoch wachsen sich diese Streitpunkte dergestalt aus, daß nach Sieferle und Schmitt die Politik die intensivste Feindlichkeit entlastet und vergegenständlicht. Zwischen den Fürsprechern für die Kernenergie und der Solarenergie siedet weitaus mehr als eine Meinungsverschiedenheit über technische Lösungen zu einer Energiekrise. Bei den Gegenseiten entflammt „unter anderen Feldzeichen“ ein politischer Krieg, worin die technische Problemlage zum Vorwand dient, weitergreifende Streitsachen an die Oberfläche kommen zu lassen.

Der für mich spannendste Teil von Sieferles Großessay bildet aber seine Zerlegung der „nachbürgerlichen“ demokratischen Staatsform, die von den Amerikanern installiert wurde. Wohlbegründet ist Sieferles Feststellung, daß die drei von ihm behandelten Staatsformen – Ständestaat, liberal-bürgerlicher Verfassungsstaat und die nachbürgerliche, „demokratische“ Verwaltungsregierung –  gedanklich und geschichtlich voneinander abzuheben sind. Die Staatsform, von welcher die späteren ausgegangen sind und zunehmend abwichen, war der aus dem Mittelalter entwachsene Ständestaat, der vererbbare Vorrechte geltend machte und keineswegs die politische Gleichberechtigung aller Landesansässigen verbürgte.

Ständestaat, liberaler Verfassungsstaat und nachbürgerliche Demokratie

Die „Emanzipation“ von dieser am längsten andauernden Staatsordnung gab einem Vorgang Auftrieb, der sich bis in die Spätmoderne beschleunigt fortgesetzt hat. Der Emanzipationsdrang kennzeichnete die den Ständestaat ersetzende Verfassungsordnung, die im neunzehnten Jahrhundert in Aufschwung kam. Die Neuordnung brachte es zuwege, daß der gebildete Bürgerstand politisch den Fuß in die Tür bekam. Aber damit ebbte das Ringen nach Rang bestimmt nicht ab. Die noch kaltgestellte Arbeiterschaft wirkte auf die Stimmberechtigung und obendrein eine zu ihrer Gunst ausfallende Einkommensumverteilung hin.

Nicht einmal die Einführung einer liberal- oder sozialdemokratischen Staatsform mit einem entsprechenden Bildungssystem beendete für Sieferle die politische Dialektik. Vielmehr ging der Emanzipationsprozeß so weit, daß er die Forderung nach Gleichheit immer weiter trieb. Zur Berichtigung vergangener und noch nicht ausgeglichener Ungleichheiten will nun die nachbürgerliche Demokratie ihrer Pflicht nachkommen. Dieses Muster „tritt zunächst in Gestalt der polemischen Forderung einer Interessengruppe auf: nach Begünstigung von Frauen bei der Besetzung bestimmter (natürlich höherer) Funktionsstellen gemäß ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung.“

Im Gegensatz zu der bürgerlichen Denkart verwirft die nachbürgerliche Demokratie „das Prinzip der liberal-individualistischen Repräsentation” und scheint zu einem älteren ständischen Prinzip zurückzukehren. Sie stellt in den Vordergrund derartige „Unterscheidungsdimensionen“ wie ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Präferenz, Rasse und so weiter. Aber nach Sieferle liegt ein Grundunterschied darin, daß „die moderne Minorität im Unterschied zum traditionellen Stand nicht das Individuum in allen seinen Eigenschaften erfasst, sondern lediglich im Hinblick auf ein bestimmtes, isoliertes Merkmal“. Und da steckt insofern ein riesiger Haken, als man mit einer einzigen Bestellung nicht jeder um Vorzüge konkurrierenden Gruppe entgegenkommen kann: „Ein Individuum kann neben der erwünschten Eigenschaft, etwa eine Frau zu sein, auch die unerwünschte Eigenschaft haben, kein Muslim, kein Behinderter oder kein Rentner zu sein.“

Hier geht es zu Teil eins und zwei. Der abschließende vierte Teil dieser Besprechung erscheint in Kürze.

Bildhintergrund: Regina Sieferle (privat)CC-BY-SA 4.0

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