Und dann fällt auf einmal diese lieblos über die Tafel geworfene EU-Fahne herunter. Das Gelächter ist groß, doch von einem Zeichen mit großer Symbolkraft will niemand etwas wissen.
Denn wir sind hier mitten in einer Veranstaltung von lauter Anhängern der Europäischen Union. Eingeladen haben die Jungen Europäischen Föderalisten und die Europa Union Sachsen. Sie wollen an diesem Montagabend in der TU Dresden mit Oliver Schenk (Chef der Staatskanzlei des Freistaates Sachsen), Heinz Lehmann (CDU-Landtagsabgeordneter und Mitglied im EU-Ausschuß der Regionen), Otto Schmuck (Union Europäischer Föderalisten) und Prof. Sabine Riedel (Stiftung Wissenschaft und Politik) über das „Europa der Regionen in Zeiten des Separatismus“ sprechen.
Der Hörsaal ist übervoll und das Thema in der Tat aufgrund der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung hochaktuell. Doch wer nun eine kontroverse Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern des Sezessionsrechts erhofft hatte, wird enttäuscht. Gleich in ihrer Einleitung nimmt Moderatorin Claudia Fahron-Hussey den Dampf raus. Es solle heute geklärt werden, wie Regionen von der Europäischen Union profitieren. Kein Wort dagegen über Kosten, Fehler oder Demokratiedefizite.
Föderalismus ist die Ausnahme
Sabine Riedel gelingt es daraufhin dennoch, ein farbenfrohes Panorama von Europa zu skizzieren. Sie betont, daß nur drei europäische Staaten eine vollentwickelte föderale Ordnung hätten, wie wir sie in Deutschland vorfinden. Überall dort nun, wo mehr Dezentralisierung gewagt wurde, führten diese Zugeständnisse an die Regionen zum Wunsch nach Eigenständigkeit. Im europäischen Vergleich genießen so Schottland und Katalonien schon jetzt mit über die meisten Autonomierechte. Ähnliches ließe sich vermutlich auch über Südtirol sagen.
Aufgrund der separatistischen Bewegungen schauten die Zentralstaaten heute allerdings sorgenvoll auf die Begehren in den Regionen. Als einen weiteren Grund, der die innere Reform der EU und Entwicklung der Regionen behindere, nennt die versierte Wissenschaftlerin schließlich die Osterweiterung. Durch sie habe der Fokus auf anderen Fragen gelegen.
Statt an dieser Stelle einmal weiterzudenken und eine Agenda für eine regionalere Politik zu entwickeln, biegt Heinz Lehmann jedoch in die andere Richtung ab. Der sächsische Vertreter im Ausschuß der Regionen der Europäischen Union rechtfertigt so ziemlich alles, was in Brüssel läuft. Besonders komisch wird es, als er die Agrarsubventionen mit dem Argument schönredet, sie resultierten aus dem Ziel, den Hunger in Europa zu überwinden. Ja, mein Gott, haben wir denn noch immer Hungersnöte auszustehen? Oder ist es nicht vielmehr so, daß unser Dumping den Aufbau der Landwirtschaft in Afrika mit erschwert?
In Vielfalt geeint?
Zu einer solchen Differenzierung scheint der EU-besoffene Lehmann aber nicht in der Lage. Er faselt lieber über europäische Solidarität. Umverteilung schaffe ihm zufolge eine „Win-Win-Situation“ und dann sind da noch angebliche „Skaleneffekte“ in der Wirtschaft, die sich anscheinend nur mit einem geldfressenden, zentralistischen Superstaat im Rücken erzielen lassen. Das verstehe, wer will. Lehmann jedenfalls scheint überhaupt nicht kapiert zu haben, daß sich die europäische Wirtschaft ohne bürokratischen Irrsinn vermutlich besser entwickeln könnte.
Ein passendes Beispiel für diesen Irrsinn nennt wenig später der Chef der sächsischen Staatskanzlei, Oliver Schenk. Eine neue Keramik-Richtlinie aus Brüssel bedrohe aktuell die Meißner Porzellan-Manufaktur. Ein besonderer Dorn im Auge ist ihm das aber nicht, denn Schenk sieht in der Abgabe von Kompetenzen ebenfalls eine „Chance“. Worin diese besteht, erklärt er nicht. Alles bleibt nebulös: Aufgrund der Globalisierung komme eine Re-Nationalisierung keineswegs in Frage. EU-Zentralismus lehnt Schenk zwar mit großen Worten ab. Wir sollten „in Vielfalt geeint“ auftreten. Eine konkrete Idee, wie er für den Freistaat Sachsen und seine Bürger mehr Handlungsspielraum und somit mehr Freiheit erreichen will, ist jedoch bei dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten noch nicht einmal im Ansatz zu spüren.
Fördermittel aus Brüssel
Damit schrumpelt das, was er anzubieten hat, auf jene 20 Milliarden Euro zusammen, die Sachsen seit der Wende von der EU erhalten habe. Dieses Geld sei insbesondere in Wissenschaft und Forschung geflossen, heben gleich mehrere Referenten an diesem Abend gebetsmühlenartig hervor. Vor dem hauptsächlich studentischen Publikum greifen sie auf ein Argument zurück, das so ähnlich schon in der DDR Verwendung fand. Um bereits Kinder auf Linie zu bringen, erzählte man ihnen in der Kita, Erich Honecker persönlich habe dafür gesorgt, daß in der Einrichtung Tische und Stühle vorhanden sind.
Und siehe da: Auch heute funktioniert diese Strategie noch! Staunen links, „Oh“ und „Ah“ rechts! Kurz vor Ende der Fragerunde meldet sich dann aber ein junger Mann zögerlich. Er weist die Politiker und Wissenschaftler darauf hin, daß sie eine Milchmädchenrechnung aufgemacht haben. Deutschland zahlte doch viel mehr in den Topf der EU ein, als es letztendlich an Fördermitteln erhielt. Der Kaiser ist also nackt und der Lüge überführt. So schnell kann´s gehen, wenn auch nur einer seinen gesunden Menschenverstand einsetzt.
Junges Europa statt Transferunion
Bloßstellungen wie diese sind Lichtblicke bei einer ansonsten erschreckend konformen Jugend. Genau aus diesem Grund mangelt es uns auch an europäischen Visionen, die keine Kopfgeburten von Intellektuellen oder Technokraten wie Jean Monnet sein dürfen, sondern aus der Begeisterungsfähigkeit junger Leute resultieren sollten. Philip Stein und ich haben deshalb in unserem Buch Junges Europa. Szenarien des Umbruchs an Giuseppe Mazzini angeknüpft, der schrieb:
„Wir sind nicht nur Verschwörer, sondern Gläubige, wir wollen nicht nur Revolutionäre, sondern, soweit als möglich, Wiedererwecker sein.“
Was könnte das heute bedeuten? Europa als Ganzes muß zu einer Schutzmacht werden. Auf dem geopolitischen Schachbrett der Welt sind wir eine Figur – ein Turm statt viele Bauern. Das bedeutet, wir müssen unsere gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Interessen auch gemeinsam vertreten und entsprechend agieren. Wie die letzten Jahre gezeigt haben, ist dies beim Schutz der Außengrenze unabdingbar. Ansonsten wird die Festung Europa noch in diesem Jahrhundert von Fremden eingenommen.
Im Inneren dagegen können wir auf unsere Vielfalt vertrauen: auf die Regionen, Völker und Nationen. Sie zur kulturellen und ökonomischen Entfaltung zu bringen, heißt jedoch, Bürokratie, Umverteilungen und Gleichmacherei (etwa über eine gemeinsame Währung, die Hart- und Weichwährungskulturen zusammenzwängt) zu vermeiden. Was wir brauchen, ist tatsächlich ein „Europa der Regionen und Europa der Völker“, das politische Entscheidungen nach unten verlagert. Die EU, ihre Eliten und unsere kleinlauten regionalen Regierungen in Deutschland rudern allerdings konsequent in die falsche Richtung.
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