Mit diesem ersten Band seines Zwillingswerks zu Dialektik und Dialogik bringt der Philosoph Johannes Heinrichs in überraschender Weise eine persönliche Forschungs- und Denkgeschichte zu einem gewissen Abschluss: Die „Dialektik“ führt zunächst den 45-jährigen Ansatz durch, den Heinrichs zuerst 1975 in seinen Vorlesungen zur Sozialphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main entwickelt hat, den Ansatz bei vier den „Sinnelementen“ Ich – Es – Du – Wir, letzteres auch „Sinnmedium“ genannt.
Von Sinnelementen spricht Heinrichs in Anlehnung an Paul Tillich. Er verwendet diesen Ausdruck allerdings in einem bedeutend umfassenderen Sinn als Tillich, der damit ursprünglich nur die Dualität von Vollzug und Gehalt kennzeichnete. Den genannten vier Sinnelementen entsprechen bei Heinrichs die vier Reflexionsstufen des interpersonalen Verhältnisses: 1. Die objektivierende Relation auf den Anderen als Objekt, wie auf etwas sachlich Anderes, 2. die einfach reflektierte („strategische“) Relation auf den Anderen als selbst aktiv Sehenden und Agierenden, 3. die doppelte und gegenseitige („kommunikative“) Relation mit dem Anderen, das Einschwingen in die Gegenseitigkeit mit ihm, 4. die metakommunikative Stellungnahme zu allen vorhergehenden Stufen, worin Verabredungen, Normen, gesetzt bzw. modifiziert werden.
Max Weber: Orientierung am Verhalten anderer
Mit dieser reflexiven Stufenlogik – einer Konkretisierung der Weberschen Definition des sozialen Handelns als „Orientierung am Verhalten anderer“ – gelingt Heinrichs die damals gesuchte (und in der Diskussion zwischen Luhmann und Habermas nicht gefundene) Vermittlung von Handlung und System durch die Reflexivität des Handelns: die gelebte soziale Reflexion ist es, die von Einzelhandlungen zu sozialen Systemen führt.
Dadurch wird Heinrichs` eigener, ganz früher Ansatz einer „transzendentalen Dialogik“ als Vermittlung von Buberscher Dialogik mit der transzendentalphilosophischen Linie von Kant bis Hegel zur Reflexions-Systemtheorie (so der Untertitel des 1976 erschienenen Buches „Reflexion als soziales System“, das später – leider unter verändertem Titel – als „Logik des Sozialen“ (2005) neu aufgelegt wurde und dann 2003/2014 als „Revolution der Demokratie“ in einer fulminanten, konstruktiv-kritischen Demokratietheorie eine politisch höchst aktuelle Fortsetzung erlebte).
Hegel als Lehrmeister der Dialektik
Das jetzige Dialektik-Buch ist indessen nicht speziell der Sozialtheorie gewidmet, sondern ganz allgemein den dialektischen Verhältnissen, die sich aus jenem Ansatz bei den genannten vier Sinnelementen ergeben. Und dies in Anknüpfung und Auseinandersetzung mit Hegel als dem großen Lehrmeister der modernen Dialektik, die als Reflexionslogik, als Logik reflexiver Verhältnisse, verstanden wird.
Der Ansatz bei den gleichursprünglichen Sinnelementen ist ein dialektischer, „wenn Dialektik allgemein eine Einheit von Gegensätzen und das Umgehen mit solchen Gegensatz-Einheiten bedeuten soll“. Untrennbar mit Dialektik verbunden sei der für Hegel zentrale Begriff der Vermittlung, der relationalen Wechselbestimmung unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Bestimmungen.
Indem Heinrichs mit Hegel von einem Gefüge von Elementen ansetzt, wird von vornherein die Ableitung aus einem Einzigen ausgeschlossen. Transzendentalphilosophie und Reflexionstheorie dürfen nicht als bloße Subjektphilosophie verstanden werden. Es wird weder vom „Ich als Prinzip der Philosophie“ (Schellings Schrift von 1795) allein ausgegangen noch von einem isolierten Absoluten, wie man Hegel missverstehen konnte.
Auch Hegels Ausgang von einem „Sein“ zu Beginn der „Wissenschaft der Logik“ wird von Heinrichs als gegenstandstheoretischer Rest im Widerspruch zu Hegels tieferen Absichten und Einsichten verstanden: „Im Bedürfnisse, entweder mit einem schlechthin Gewissen, d.i. der Gewissheit seiner selbst, oder mit einer Definition oder Anschauung des absoluten Wahren anzufangen, können diese und andere dergleichen Form dafür angesehen werden, daß sie die ersten sein müssen. Aber indem innerhalb jeder dieser Formen bereits Vermittlung ist, so sind sie nicht wahrhaft die ersten; die Vermittlung ist ein Hinausgegangensein aus einem Ersten zu einem Zweiten und Hervorgehen aus Unterschiedenen“ (Enzyklopädie, § 86; zit. S.28).
Heinrichs hält sich in seiner Systematik an diese eigene Grundintuition Hegels von einem Vermittlungsgefüge der gleichursprünglichen Sinnelemente. Er lehnt Hegels Wissenschaft der Logik als gescheitert sowie unverständlich ab, weil sie entgegen dem Zitierten von dem einen Gedanken eines gegenständlichen „Seins“ ausgeht, weiß sich dagegen in der Herausarbeitung der dialektischen Relationen im Vermittlungsgefüge der Sinnelemente mit ihm einig.
Sinnelemente als Gegensatz-Einheiten
Heinrichs` Vorgehen besteht „einfach“ darin, die Beziehungen zwischen den Sinnelementen bzw. diese selbst als dialektische Gegensatz-Einheiten zu interpretieren, angefangen vom Selbstbewusstsein als impliziter Selbstreflexion – seine alte Kontroverse mit der Henrich-Schule, welche die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins zu Unrecht als zirkelhaft ablehne. Vielmehr bedeute diese schon von Thomas von Aquin implizit vertretene Theorie die spezifisch moderne Anerkennung einer inneren Differenz (Jacques Derrida: différance) als konstitutiv für das Selbstbewusstsein.
Die Subjekt-Objekt-Relation wird in grundsätzlichem Unterschied zur Subjekt-Subjekt-Relation gekennzeichnet – das Thema, das im folgenden Band „Dialogik“ eigens ausgebreitet wird – aber auch zur Leib-Seele-Relation sowie vor allem zur „partizipativen“ Relation des Ich zum Sinnmedium. Insgesamt unterscheidet Heinrichs mit seiner Methode einer rekonstruktiven Phänomenologie 16 Hauptrelationen: als unterschiedliche „Quell-Typen“ von Dialektik. In dieser neuartigen Typologie von Dialektik-Formen, die in einer mandala-artigen Skizze (Figur 11, S. 166) anschaulich zusammengefasst werden, sehe ich einen sensationellen Fortschritt in unserem Denken über Dialektik.
Neue Schritte in der Philosophie
Meines Erachtens wird kein künftiges Reden über Dialektik an diesen ebenso genialen wie präzisen Unterscheidungen vorbeikommen, die sich mit eherner Konsequenz aus dem 45 Jahre alten Ansatz bei dem Gefüge der Sinnelemente ergeben! Wenn es grundsätzlich neue Schritte in der Philosophie der Gegenwart gibt – hier kann der aufmerksame Leser sie erleben, nicht aufgrund von modischer Marktanpassung, sondern in der konzentrierten Vertiefung in reflexionslogische Zusammenhänge.
Ausgespart wird vom Autor einzig die innerobjektive Naturdialektik (gezählt als Typ 12 von Dialektik), die er klugerweise einer eigenen naturphilosophischen Betrachtung auf naturwissenschaftlichen, das heißt heute insbesondere: auf quantenphysikalischen Grundlagen überlassen will. Bemerkenswert ist in naturphilosophischer Hinsicht, dass er Hegel im Gefolge von Spinoza als „dialektischen Materialisten“ wie zugleich „dialektischen Idealisten“ interpretiert, während der sogenannte dialektische Materialismus des 20. Jahrhunderts gar kein dialektischer gewesen sei, weil er aus der für Hegels Denken kennzeichnenden Einheit von Ideellem und Materiellem herausgefallen sei, die allein die Kennzeichnung „dialektisch“ in ontologischer Hinsicht verdiene.
Allerdings gibt er den Hegelschülern und -kritikern Feuerbach und Marx darin Recht, dass dialektische Logik keine bloße Denklogik sein dürfe, dass Logik vielmehr sowohl den nicht-denkerischen Erkenntnisvermögen (Wahrnehmung, Gefühl, Intuition) wie die semiotischen Stufen (Handlung – Sprache – Kunst – Mystik) und darin zugleich der Leibnatur des Menschen denkend Rechnung tragen müsse. Darin liegt für ihn die tiefste Dialektik des Denkens: dass es den menschlichen Bezügen denkend gerecht werden muss, die nicht bloß Denken sind!
Heinrichs sichert den höchst ungewöhnlichen Gedankengang dieses Buches durch positiven Bezug auf drei Hegel-Kenner ab (Theodor W. Adorno, Vittoria Hösle, Thomas Sören Hoffmann), anfangs auch durch das (freilich rein programmatisch bleibende) Dialektik-Konzept in einem Lexikon-Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer ab. Doch sein Verständnis von Dialektik als strukturale Denkform gipfelt in einem anspruchsvollen Zitat des einst unbequemen DDR-Philosophen Peter Ruben: „Angesichts des Stands der internationalen Hegel-Rezeption darf man behaupten, daß das Verständnis Hegels erst wirklich gelungen sein wird, wenn seine Philosophie systematisch aufgehoben worden ist.“
Die Schlusskapitel über „Grundsätze einer Philosophie der Zukunft“ sowie „Über mangelndes politisches Dialektikbewusstsein an Beispielen“, worin Heinrichs zuletzt sein leider noch wenig beachtetes Konzept einer Wertstufendemokratie auf reflexionslogischen Grundlagen umreißt, verdeutlichen die weittragende praktische Relevanz dieser Auseinandersetzung mit dem Dialektiker Hegel. Im Klappentext des Buches heißt es: „Das Ziel ist kein geringeres als eine folgenreiche systematische ‚Aufhebung‘ (Aneignung wie ehrenvolle Überwindung) Hegels, aus Anlass seines 250. Geburtstags.“ Meines Erachtens hat der Autor dieses hochgesteckte Ziel tatsächlich erreicht, und das ist das überraschend Bedeutsame an diesem relativ schmalen Bändchen.
Johannes Heinrichs, Dialektik jenseits von Hegel und Corona. Integrale Strukturlogik als Hegels Auftrag für eine Philosophie der Zukunft, Academia, Baden-Baden 2020, 227 Seiten.
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