Die Frage dieses Essays ist, ob Nietzsches Aussagekraft seines Gesamtwerkes das Feld der Kunst jemals verlassen hat oder mit anderen Worten: Sind die bekannten Werke und die darin vorkommenden und so verstandenen Denkfiguren Nietzsches wie „der Übermensch“, „der Wille zur Macht“, „die Wiederkehr des Gleichen“ und „die Überwindung“ et cetera in Wirklichkeit Kunstfiguren, d.h. Figuren, die sowohl aus als auch für die Kunst erschaffen worden sind. Werden die Probleme und Fragen der Kunst generell auf die Fragen des ganzen Menschen ausgeweitet oder sogar fälschlich übertragen?
Nietzsches erstes berühmtes Werk ist die Geburt der Tragödie – noch als Basler Professor für Klassische Philologie, war Nietzsche ein aufstrebender Wissenschaftler eines aufstrebenden Faches, nämlich der klassischen Philologie im 19. Jahrhundert. Dieses Werk, das von den Kollegen Nietzsches, also den weiteren Professoren des Faches weitgehend und vehement abgelehnt worden ist, ist eindeutig sowohl sprachlich als auch inhaltlich geprägt im Stile des späteren Nietzsche.
Er tritt nicht mehr als wissenschaftlicher Philologe auf, sondern als Künstler – ein Kunstfeld, das er höchstwahrscheinlich niemals verlassen sollte. Jegliches spätere Werk erscheint als Fortführung der Tragödienschrift. Nietzsche huldigt in diesem Werk Wagner – Wagner ist für Nietzsche der Künstler, welcher die Wiedergeburt der Tragödie, der großen, wenn nicht größten Kunst einleitet, er ist zu der Zeit für Nietzsche der Künstler sui generis, welcher eine neue Epoche schafft, oder besser gesagt, eine neue Epoche setzt, diese neue Epoche tritt durch die Kunst des Künstlers in Erscheinung.
Doch der Hauptschauplatz der Tragödienschrift hat viele Nebenschauplätze. Es gibt einige Aufsätze, die auf diesen Plätzen zu finden sind, wie unter anderem z.B. „Sokrates und die griechische Tragödie“ und „Die Dionysische Weltanschauung“. Als Vorarbeit zur Tragödienschrift liefert uns Nietzsche gleich am Anfang von „Dionysische Weltanschauung“ ein wichtiges Indiz bzw. Zitat:
„Diese Namen [Apollo und Dionysos] repräsentieren in der Kunst Stilgegensätze, die fast immer im Kampf mit einander neben einander einhergehen und nur einmal, im Blütemoment des hellenischen „Willens“, zu dem Kunstwerk der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen. Im zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch.
Der schöne Schein der Traumwelt, in der jeder Mensch voller Künstler ist, ist der Vater aller bildenden Kunst […].“
Die Verfahrensordnung Nietzsches
Dieses Indiz sagt einiges aus bzw. spricht uns, die Leser, an als Künstler. Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass jeder Mensch in der Kunstwelt, bzw. Nietzsche nennt es die Traumwelt nicht „außerdem“ oder „unter anderem“ Künstler ist, sondern voller Künstler, d.h. vor allem oder „nur“ Künstler ist. Jeder Mensch träumt, jeder Mensch ist daher sogar im Unterbewussten laut Nietzsche „voller“ Künstler. Jeder Mensch ist somit also im Spiel der Kunst oder auf Kunstfeld heimisch oder hat als Künstler auch ein Sinn für die Kunst.
Die Kunst ist somit laut Nietzsche allgemeingültig – sie ist der Zugang zum Leben – hier somit der Konnex zur Lebensphilosophie und all ihren Bestimmungen und Begriffen zu sehen. Nietzsche sagt es in den „Nachgelassenen Fragmenten“ wortwörtlich: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“
Durch die „Ermöglicherin des Lebens“ ist der Zugang laut Nietzsche zum Leben ermöglicht. Doch, was ist das für ein Leben? Gerade diese Frage ist von hervorzuhebender Wichtigkeit. Das Leben ist laut Nietzsche zumindest das vorkonventionelle bzw. postkonventionelle, d.h. ein nicht auf menschliche Konventionen berufende Leben bzw. eine Vorstellung von diesem, dies ist das „echte“ Leben, welches nicht kategorisiert und zivilisiert ist oder mit den Worten Nietzsches in Menschliches, Allzumenschliches II: „Das, was der Künstler über die Conventionen hinaus erfindet, das gibt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Falle mit dem Erfolge, dass er eine neue Convention schafft.“
Um jedoch über die Konventionen etwas hinaus zu erfinden, situiert sich Nietzsche sich bzw. den Prototypen des großen Künstlers gerne im „echten“ Leben des konventionslosen „Davor“, „Danach“ oder „Darüber hinaus“, d.h., im Rauen, im Rauschenden, im Traumhaften, im Brutalen, im Liebenden bzw. in eine Nietzscheanische Vorstellung von diesen Punkten. Die Konvention, so wirkt es, sedimentiert und entkernt für Nietzsche „das Leben“. Die Sprache Nietzsches ist wortwörtlich übersäht mit Pathos und Wortspielen. Es wirkt, als hätte nicht unbedingt oder nicht zwingend der Inhalt das Primat, sondern das Wort-spiel und die Stilistik, quasi eine Verführung der Sprache Nietzsches – oder ein Versuch das Maximum an ironischen, manchmal auch sarkastischen, vor allem aber an polemischen Sprachwendungen aus den teils aphoristischen Sätzen herauszuholen.
Inhaltlich gesehen ist das oben angesprochene vor allem, bzw. nur eine Projektion Nietzsches, wie ein Leben ohne die Ketten der menschlichen Konventionen funktionieren könnte. Nietzsche treibt mit seinen Deutungen ab in das Animalisch-Bestialische oder mit anderen Worten: Einer der wichtigsten Figuren Nietzsches ist der „Wille zur Macht“ – einmal verstanden als „Ja“ zu diesem angeblich „echten“ Leben – ein anderes mal wieder verstanden als dieses „Leben“ selbst, der Wille zur Macht ist der Wille der Überordnung, er ist vor allem ein Affekt – eine Umkehrung von Platons Denken, denn diesem waren die Affekte verhasst. Nietzsche Konventionshass geht wiederum so weit, dass dieser sich flüchtet in die Welt des Tieres (A) und in die phantasiehafte Vorstellungen des Überstarken (B).
Diese gesamten Projektionen funktionieren nur unter der generellen Umkehrung der Ordnungen oder Denkordnungen wie sie stilistisch in Jenseits von Gut und Böse zu finden sind oder mit Nietzsche auf die Spitze getrieben: Die „Umkehrung aller Werte“, welche man begriffstechnisch und inhaltlich in der Genealogie der Moral und bei der Götzendämmerung findet, diese Umkehrung ist in Wirklichkeit die Verfahrensordnung, sein modus operandi. Nietzsche dreht die gesamte Situation auf den Kopf, was eigentlich als Entwicklung verstanden wird, ist für ihn Verfall et cetera et cetera.
(A) Flucht in die Welt des Tieres
Nietzsches Flucht in die Welt des Tieres ist anders als erwartet, eben nicht nur explizit, sondern auch stark implizit. Es geht ihm um die Kunstbilder des Menschen, die auf der Seite als Teil der Natur, dieser Natur also angehören, auf der anderen Seite mit dieser Natur um das Überleben ringen – bis auf einmal der Priester kam – Nietzsche schreibt in der Genealogie der Moral:
„Der Hauptgriff, den sich der asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jeder Art von zerreißender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit getan – Jedermann weiß das – dass er sich das Schuldgefühl zu Nutze machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein Stück Thierpsychologie, als nicht mehr: Das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen – o was für eine Gestalt! Die „Sünde“ – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thierischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bis jetzt das größte Ereignis der kranken Seele gewesen.“
Ist es nicht seltsam, dass der Priester hier als Künstler angesprochen wird? Und wie passt dies mit Nietzsches bis dato dargestellten Künstlerbegriff zusammen? Der Priester – der Künstler in Schuldgefühlen – und einer mit ihm zusammenhängende Institution, nämlich die Kirche, schaffen neue Konventionen – der, der neue bzw. vor allem seine eigenen Konventionen schafft, welche die Menschen prägen, ist laut Nietzsche ein großer Künstler. Die Grausamkeit des Tieres, das wortwörtliche Leben als Er- und Durchleben der Instinkte des Tieres wird als positiv bewertet.
Die Schuldgefühle, ja jegliches Moralische wird als künstlich gesetzt angesehen. Dabei ist es genau umgekehrt. Wieder einmal zeigt sich hier die Verfahrensordnung Nietzsches. Das Menschliche ist eben nicht das zum Teil Animalische und zum anderen Teil das mit dem Animalischen Kämpfende. Der Mensch ist als soziales Wesen auf andere Menschen angewiesen. Es entsteht ein „Netzwerk der gegenseitigen Hilfe“ – die gegenseitigen und unterschiedlichen Stärken werden in positiver Weise genutzt. Selbstverständlich hat der Mensch auch animalische Züge. Das Soziale am Menschen wird jedoch von Nietzsche völlig und bewusst übersehen, bzw. als falsch dargestellt, Mitleid ist für Nietzsche eine Form des Leids.
Nietzsche sieht das Soziale nur als Maske des Wirklichen, und alles Tiefe liebt laut Nietzsche die Maske (ein Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse). Die Tiefenschicht des Menschen ist laut Nietzsche bestialisch, bestialisch-ertragend und konventionsfrei. Aber wie kann das sein? Nietzsche schaut mit seiner Kunstbrille in den Abgrund des Menschlichen, denn gerade dort findet sich der Stoff für die interessanten Geschichten, dort ist es nie langweilig, dort wird der Mensch wieder zur Bestie. Und was passiert nun? Der Abgrund schaut auf Nietzsche zurück – Nietzsche ist gefangen in dieser Tierwelt, in welche er geflüchtet ist. Nietzsche macht die Ausnahme zur Regel. Doch gerade diese archaische Tierwelt fundiert sowohl explizit als auch implizit den Grund und den Spielraum – das Kunstfeld der Kunstphilosophie Nietzsches.
Es ist die Ausgangslage und der sich von dieser Ausgangslage durch Moral und weiteren Konventionen entfernende Mensch, welche die Grundlage für Nietzsches Kunstphilosophie darstellt, der Mensch flüchtet vor der wahren Kunst, der Inspiration und der Muse des Lebens in die Konventionen und weiteren Ketten – wieder eine Umkehrung von Nietzsche – nämlich eine Umkehrung des Paradieses.
(B) Flucht in die phantasiehafte Vorstellungen des Überstarken
Nietzsches Philosophie ist eine Lebensphilosophie, die er selbst nicht lebte. Ernst Jünger tat dies. Interessant ist, dass Jünger vor allem das erste Werk Nietzsches, also die Tragödie sehr zentralisierte. Nietzsche hat die Konventionen und Ketten der Bürgerlichkeit, eine Möglichkeit Nietzsches Konventionshass im Sinne Jüngers auszulegen, möglicherweise nur in seiner Kunstwelt überwunden, als Schöpfer eines neuen Stils? Nun ja, eine eigene Epoche der Kunst prägte Nietzsche nicht, obwohl er zu den wirkungsgeschichtlich größten Philosophen zu zählen ist und kein Wunder, es waren zunächst die Maler, die er prägte. Es scheint aber durchaus so, als ob der Künstler Nietzsche in eine, möglicherweise sogar wahnhafte, phantasiehafte Vorstellungen des projizierten Überstarken flüchtete. Es scheint so, als ob Nietzsche nicht Teil dieses Höhlenausfluges sei, welcher in die brachiale und brutale Wirklichkeit in den Vorstellungen Nietzsche flüchtete, vielmehr als gehöre er zu den Schreibern, welche die Geschichten über und für die „echten“ Starken schreiben soll.
Es scheint so, also ob Nietzsche die eigene Schreibhöhle nie verlassen hatte und gerade dadurch einen überstarken Menschen herbeiphantasierte. Dieser soll jedoch beides sein: ein Herr und eine Art Überwindung des Menschen zugleich, welcher nicht „nur“ die Probleme des Kampfes mit Wildtieren und der Brutalität des Lauerns des Todes an jeder Ecke meistern sollte, sondern etwas, wie die sogenannte „Wiederkehr des Gleichen“ aushalten sollte? Seltsam, oder? Der Überstarke oder bei Nietzsche auch Übermensch genannte, ist nämlich der Überkünstler. Nietzsche beschreibt in seiner Schreibhöhle nicht nur die Geschichte des Starken, er projiziert seine Probleme, nämlich die Probleme eines Künstlers in die Probleme der Figur des überstarken Übermenschen mithinein, welcher als Prototyp der Menschheit, also nicht als neue oder nächste evolutionäre Stufe aufzufassen ist, das Verbesserte und Prototypische am Übermenschen ist die Überwindung des eigenen selbst – welches, wir erinnern uns, durch Konvention zum Ziel aller Grausamkeiten geworden ist, dies zu überwinden, heißt eine Überwindung der Moral, eine Überwindung aller Konventionen.
Nietzsches überstarker Übermensch ist der epochenschaffende Künstler, welcher die Wiederkehr der ewig ähnlichen Kunst aushält – schließlich gibt es in der Kunst sehr viele Renaissancen und Synthesen. Nietzsches Übermensch ist eine Überwindungsfunktion.
Der starke Kämpfer und der vermeidlich Schwache nicht aus der Höhle herausgehende Mensch werden bei Hans Blumenbergs Meisterwerk Die Höhlenausgänge jedoch nicht als hierarchisch unterschiedlich gewertet, das, was Blumenberg beschreibt ist also eine Arbeitsteilung, der in der Höhle wohnenden Menschen, welche innerhalb eines Netzwerkes der gegenseitigen Hilfe zusammenleben und kein einseitiges Präferieren der Einen über den Anderen. Es kann jedoch passieren, hier Blumenberg weiterführend, dass der Geschichtenerzähler sich selbst, aufgrund der Autorenschaft, als Meister der Geschichte in den Starken hineinversetzt oder sich als Substitut für diesen abwesenden, sich in echter Gefahr befindlichen Menschen, für berufen hält. Er ähnelt somit dem Verhältnis des Schauspielers zu seiner Rolle.
Nietzsche bleibt ein Vollblutkünstler. So sind auch seine Motive und Figuren, Motive und Figuren der Kunst. Diese Motive und Figuren dienen zur Explikation der Probleme der Künstler und haben uns nur sekundär, wenn nicht nur tertiär anthropologisch, psychologisch oder sogar politisch etwas zu sagen. Das Werk Nietzsches bleibt ein Kunstwerk, das für jegliche Freiheit oder Beliebigkeit der intentio lectoris (die Intention des Lesers) offen ist bzw. dieser offen zur Verfügung steht. Das Hineinversetzen des Lesers in den starken „Übermenschen“, wie Nietzsche selbst es höchstwahrscheinlich tat, gehört wohl zum Erfolgskonzept dieser Kunstphilosophie.
Nietzsche gehört jedoch in keinem Sinne zu den politischen Realisten wie Machiavelli, Hobbes und Carl Schmitt. Die Probleme eines neuen Stils, welcher eine neue Epoche prägt und den größten Ruhm eines Künstlers mit sich bringt, ist das größte, teils auch völlig übertriebene Movens eines im Nietzscheanischen Sinne verstandenen Künstlers.
Selbstverständlich sind die Funktionen der Kunst höchst unterschiedlich, wie z.B. als versteckte Botschaft, als Therapie, als Vereinfachung, als Objektivierung und Zurschaustellung et cetera. Nietzsche jedoch reiht sich in die Künstler ein, welche ihre eigenen Probleme dadurch stilisieren und adeln, indem sie diese fälschlicherweise als allgemeine Fragen und Probleme benennen. Dennoch hat dieser Künstler uns wirkungsgeschichtlich viel zu sagen:
Nietzsche – Qualis Artifex!
Die Frage dieses Essays ist, ob Nietzsches Aussagekraft seines Gesamtwerkes das Feld der Kunst jemals verlassen hat oder mit anderen Worten: Sind die bekannten Werke und die darin vorkommenden und so verstandenen Denkfiguren Nietzsches wie „der Übermensch“, „der Wille zur Macht“, „die Wiederkehr des Gleichen“ und „die Überwindung“ et cetera in Wirklichkeit Kunstfiguren, d.h. Figuren, die sowohl aus als auch für die Kunst erschaffen worden sind. Werden die Probleme und Fragen der Kunst generell auf die Fragen des ganzen Menschen ausgeweitet oder sogar fälschlich übertragen?
Nietzsches erstes berühmtes Werk ist die Geburt der Tragödie – noch als Basler Professor für Klassische Philologie, war Nietzsche ein aufstrebender Wissenschaftler eines aufstrebenden Faches, nämlich der klassischen Philologie im 19. Jahrhundert. Dieses Werk, das von den Kollegen Nietzsches, also den weiteren Professoren des Faches weitgehend und vehement abgelehnt worden ist, ist eindeutig sowohl sprachlich als auch inhaltlich geprägt im Stile des späteren Nietzsche.
Er tritt nicht mehr als wissenschaftlicher Philologe auf, sondern als Künstler – ein Kunstfeld, das er höchstwahrscheinlich niemals verlassen sollte. Jegliches spätere Werk erscheint als Fortführung der Tragödienschrift. Nietzsche huldigt in diesem Werk Wagner – Wagner ist für Nietzsche der Künstler, welcher die Wiedergeburt der Tragödie, der großen, wenn nicht größten Kunst einleitet, er ist zu der Zeit für Nietzsche der Künstler sui generis, welcher eine neue Epoche schafft, oder besser gesagt, eine neue Epoche setzt, diese neue Epoche tritt durch die Kunst des Künstlers in Erscheinung.
Doch der Hauptschauplatz der Tragödienschrift hat viele Nebenschauplätze. Es gibt einige Aufsätze, die auf diesen Plätzen zu finden sind, wie unter anderem z.B. „Sokrates und die griechische Tragödie“ und „Die Dionysische Weltanschauung“. Als Vorarbeit zur Tragödienschrift liefert uns Nietzsche gleich am Anfang von „Dionysische Weltanschauung“ ein wichtiges Indiz bzw. Zitat:
„Diese Namen [Apollo und Dionysos] repräsentieren in der Kunst Stilgegensätze, die fast immer im Kampf mit einander neben einander einhergehen und nur einmal, im Blütemoment des hellenischen „Willens“, zu dem Kunstwerk der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen. Im zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch.
Der schöne Schein der Traumwelt, in der jeder Mensch voller Künstler ist, ist der Vater aller bildenden Kunst […].“
Die Verfahrensordnung Nietzsches
Dieses Indiz sagt einiges aus bzw. spricht uns, die Leser, an als Künstler. Zunächst ist wichtig zu verstehen, dass jeder Mensch in der Kunstwelt, bzw. Nietzsche nennt es die Traumwelt nicht „außerdem“ oder „unter anderem“ Künstler ist, sondern voller Künstler, d.h. vor allem oder „nur“ Künstler ist. Jeder Mensch träumt, jeder Mensch ist daher sogar im Unterbewussten laut Nietzsche „voller“ Künstler. Jeder Mensch ist somit also im Spiel der Kunst oder auf Kunstfeld heimisch oder hat als Künstler auch ein Sinn für die Kunst.
Die Kunst ist somit laut Nietzsche allgemeingültig – sie ist der Zugang zum Leben – hier somit der Konnex zur Lebensphilosophie und all ihren Bestimmungen und Begriffen zu sehen. Nietzsche sagt es in den „Nachgelassenen Fragmenten“ wortwörtlich: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“
Durch die „Ermöglicherin des Lebens“ ist der Zugang laut Nietzsche zum Leben ermöglicht. Doch, was ist das für ein Leben? Gerade diese Frage ist von hervorzuhebender Wichtigkeit. Das Leben ist laut Nietzsche zumindest das vorkonventionelle bzw. postkonventionelle, d.h. ein nicht auf menschliche Konventionen berufende Leben bzw. eine Vorstellung von diesem, dies ist das „echte“ Leben, welches nicht kategorisiert und zivilisiert ist oder mit den Worten Nietzsches in Menschliches, Allzumenschliches II: „Das, was der Künstler über die Conventionen hinaus erfindet, das gibt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Falle mit dem Erfolge, dass er eine neue Convention schafft.“
Um jedoch über die Konventionen etwas hinaus zu erfinden, situiert sich Nietzsche sich bzw. den Prototypen des großen Künstlers gerne im „echten“ Leben des konventionslosen „Davor“, „Danach“ oder „Darüber hinaus“, d.h., im Rauen, im Rauschenden, im Traumhaften, im Brutalen, im Liebenden bzw. in eine Nietzscheanische Vorstellung von diesen Punkten. Die Konvention, so wirkt es, sedimentiert und entkernt für Nietzsche „das Leben“. Die Sprache Nietzsches ist wortwörtlich übersäht mit Pathos und Wortspielen. Es wirkt, als hätte nicht unbedingt oder nicht zwingend der Inhalt das Primat, sondern das Wort-spiel und die Stilistik, quasi eine Verführung der Sprache Nietzsches – oder ein Versuch das Maximum an ironischen, manchmal auch sarkastischen, vor allem aber an polemischen Sprachwendungen aus den teils aphoristischen Sätzen herauszuholen.
Inhaltlich gesehen ist das oben angesprochene vor allem, bzw. nur eine Projektion Nietzsches, wie ein Leben ohne die Ketten der menschlichen Konventionen funktionieren könnte. Nietzsche treibt mit seinen Deutungen ab in das Animalisch-Bestialische oder mit anderen Worten: Einer der wichtigsten Figuren Nietzsches ist der „Wille zur Macht“ – einmal verstanden als „Ja“ zu diesem angeblich „echten“ Leben – ein anderes mal wieder verstanden als dieses „Leben“ selbst, der Wille zur Macht ist der Wille der Überordnung, er ist vor allem ein Affekt – eine Umkehrung von Platons Denken, denn diesem waren die Affekte verhasst. Nietzsche Konventionshass geht wiederum so weit, dass dieser sich flüchtet in die Welt des Tieres (A) und in die phantasiehafte Vorstellungen des Überstarken (B).
Diese gesamten Projektionen funktionieren nur unter der generellen Umkehrung der Ordnungen oder Denkordnungen wie sie stilistisch in Jenseits von Gut und Böse zu finden sind oder mit Nietzsche auf die Spitze getrieben: Die „Umkehrung aller Werte“, welche man begriffstechnisch und inhaltlich in der Genealogie der Moral und bei der Götzendämmerung findet, diese Umkehrung ist in Wirklichkeit die Verfahrensordnung, sein modus operandi. Nietzsche dreht die gesamte Situation auf den Kopf, was eigentlich als Entwicklung verstanden wird, ist für ihn Verfall et cetera et cetera.
(A) Flucht in die Welt des Tieres
Nietzsches Flucht in die Welt des Tieres ist anders als erwartet, eben nicht nur explizit, sondern auch stark implizit. Es geht ihm um die Kunstbilder des Menschen, die auf der Seite als Teil der Natur, dieser Natur also angehören, auf der anderen Seite mit dieser Natur um das Überleben ringen – bis auf einmal der Priester kam – Nietzsche schreibt in der Genealogie der Moral:
„Der Hauptgriff, den sich der asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jeder Art von zerreißender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit getan – Jedermann weiß das – dass er sich das Schuldgefühl zu Nutze machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet – als ein Stück Thierpsychologie, als nicht mehr: Das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen – o was für eine Gestalt! Die „Sünde“ – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thierischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bis jetzt das größte Ereignis der kranken Seele gewesen.“
Ist es nicht seltsam, dass der Priester hier als Künstler angesprochen wird? Und wie passt dies mit Nietzsches bis dato dargestellten Künstlerbegriff zusammen? Der Priester – der Künstler in Schuldgefühlen – und einer mit ihm zusammenhängende Institution, nämlich die Kirche, schaffen neue Konventionen – der, der neue bzw. vor allem seine eigenen Konventionen schafft, welche die Menschen prägen, ist laut Nietzsche ein großer Künstler. Die Grausamkeit des Tieres, das wortwörtliche Leben als Er- und Durchleben der Instinkte des Tieres wird als positiv bewertet.
Die Schuldgefühle, ja jegliches Moralische wird als künstlich gesetzt angesehen. Dabei ist es genau umgekehrt. Wieder einmal zeigt sich hier die Verfahrensordnung Nietzsches. Das Menschliche ist eben nicht das zum Teil Animalische und zum anderen Teil das mit dem Animalischen Kämpfende. Der Mensch ist als soziales Wesen auf andere Menschen angewiesen. Es entsteht ein „Netzwerk der gegenseitigen Hilfe“ – die gegenseitigen und unterschiedlichen Stärken werden in positiver Weise genutzt. Selbstverständlich hat der Mensch auch animalische Züge. Das Soziale am Menschen wird jedoch von Nietzsche völlig und bewusst übersehen, bzw. als falsch dargestellt, Mitleid ist für Nietzsche eine Form des Leids.
Nietzsche sieht das Soziale nur als Maske des Wirklichen, und alles Tiefe liebt laut Nietzsche die Maske (ein Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse). Die Tiefenschicht des Menschen ist laut Nietzsche bestialisch, bestialisch-ertragend und konventionsfrei. Aber wie kann das sein? Nietzsche schaut mit seiner Kunstbrille in den Abgrund des Menschlichen, denn gerade dort findet sich der Stoff für die interessanten Geschichten, dort ist es nie langweilig, dort wird der Mensch wieder zur Bestie. Und was passiert nun? Der Abgrund schaut auf Nietzsche zurück – Nietzsche ist gefangen in dieser Tierwelt, in welche er geflüchtet ist. Nietzsche macht die Ausnahme zur Regel. Doch gerade diese archaische Tierwelt fundiert sowohl explizit als auch implizit den Grund und den Spielraum – das Kunstfeld der Kunstphilosophie Nietzsches.
Es ist die Ausgangslage und der sich von dieser Ausgangslage durch Moral und weiteren Konventionen entfernende Mensch, welche die Grundlage für Nietzsches Kunstphilosophie darstellt, der Mensch flüchtet vor der wahren Kunst, der Inspiration und der Muse des Lebens in die Konventionen und weiteren Ketten – wieder eine Umkehrung von Nietzsche – nämlich eine Umkehrung des Paradieses.
(B) Flucht in die phantasiehafte Vorstellungen des Überstarken
Nietzsches Philosophie ist eine Lebensphilosophie, die er selbst nicht lebte. Ernst Jünger tat dies. Interessant ist, dass Jünger vor allem das erste Werk Nietzsches, also die Tragödie sehr zentralisierte. Nietzsche hat die Konventionen und Ketten der Bürgerlichkeit, eine Möglichkeit Nietzsches Konventionshass im Sinne Jüngers auszulegen, möglicherweise nur in seiner Kunstwelt überwunden, als Schöpfer eines neuen Stils? Nun ja, eine eigene Epoche der Kunst prägte Nietzsche nicht, obwohl er zu den wirkungsgeschichtlich größten Philosophen zu zählen ist und kein Wunder, es waren zunächst die Maler, die er prägte. Es scheint aber durchaus so, als ob der Künstler Nietzsche in eine, möglicherweise sogar wahnhafte, phantasiehafte Vorstellungen des projizierten Überstarken flüchtete. Es scheint so, als ob Nietzsche nicht Teil dieses Höhlenausfluges sei, welcher in die brachiale und brutale Wirklichkeit in den Vorstellungen Nietzsche flüchtete, vielmehr als gehöre er zu den Schreibern, welche die Geschichten über und für die „echten“ Starken schreiben soll.
Es scheint so, also ob Nietzsche die eigene Schreibhöhle nie verlassen hatte und gerade dadurch einen überstarken Menschen herbeiphantasierte. Dieser soll jedoch beides sein: ein Herr und eine Art Überwindung des Menschen zugleich, welcher nicht „nur“ die Probleme des Kampfes mit Wildtieren und der Brutalität des Lauerns des Todes an jeder Ecke meistern sollte, sondern etwas, wie die sogenannte „Wiederkehr des Gleichen“ aushalten sollte? Seltsam, oder? Der Überstarke oder bei Nietzsche auch Übermensch genannte, ist nämlich der Überkünstler. Nietzsche beschreibt in seiner Schreibhöhle nicht nur die Geschichte des Starken, er projiziert seine Probleme, nämlich die Probleme eines Künstlers in die Probleme der Figur des überstarken Übermenschen mithinein, welcher als Prototyp der Menschheit, also nicht als neue oder nächste evolutionäre Stufe aufzufassen ist, das Verbesserte und Prototypische am Übermenschen ist die Überwindung des eigenen selbst – welches, wir erinnern uns, durch Konvention zum Ziel aller Grausamkeiten geworden ist, dies zu überwinden, heißt eine Überwindung der Moral, eine Überwindung aller Konventionen.
Nietzsches überstarker Übermensch ist der epochenschaffende Künstler, welcher die Wiederkehr der ewig ähnlichen Kunst aushält – schließlich gibt es in der Kunst sehr viele Renaissancen und Synthesen. Nietzsches Übermensch ist eine Überwindungsfunktion.
Der starke Kämpfer und der vermeidlich Schwache nicht aus der Höhle herausgehende Mensch werden bei Hans Blumenbergs Meisterwerk Die Höhlenausgänge jedoch nicht als hierarchisch unterschiedlich gewertet, das, was Blumenberg beschreibt ist also eine Arbeitsteilung, der in der Höhle wohnenden Menschen, welche innerhalb eines Netzwerkes der gegenseitigen Hilfe zusammenleben und kein einseitiges Präferieren der Einen über den Anderen. Es kann jedoch passieren, hier Blumenberg weiterführend, dass der Geschichtenerzähler sich selbst, aufgrund der Autorenschaft, als Meister der Geschichte in den Starken hineinversetzt oder sich als Substitut für diesen abwesenden, sich in echter Gefahr befindlichen Menschen, für berufen hält. Er ähnelt somit dem Verhältnis des Schauspielers zu seiner Rolle.
Nietzsche bleibt ein Vollblutkünstler. So sind auch seine Motive und Figuren, Motive und Figuren der Kunst. Diese Motive und Figuren dienen zur Explikation der Probleme der Künstler und haben uns nur sekundär, wenn nicht nur tertiär anthropologisch, psychologisch oder sogar politisch etwas zu sagen. Das Werk Nietzsches bleibt ein Kunstwerk, das für jegliche Freiheit oder Beliebigkeit der intentio lectoris (die Intention des Lesers) offen ist bzw. dieser offen zur Verfügung steht. Das Hineinversetzen des Lesers in den starken „Übermenschen“, wie Nietzsche selbst es höchstwahrscheinlich tat, gehört wohl zum Erfolgskonzept dieser Kunstphilosophie.
Nietzsche gehört jedoch in keinem Sinne zu den politischen Realisten wie Machiavelli, Hobbes und Carl Schmitt. Die Probleme eines neuen Stils, welcher eine neue Epoche prägt und den größten Ruhm eines Künstlers mit sich bringt, ist das größte, teils auch völlig übertriebene Movens eines im Nietzscheanischen Sinne verstandenen Künstlers.
Selbstverständlich sind die Funktionen der Kunst höchst unterschiedlich, wie z.B. als versteckte Botschaft, als Therapie, als Vereinfachung, als Objektivierung und Zurschaustellung et cetera. Nietzsche jedoch reiht sich in die Künstler ein, welche ihre eigenen Probleme dadurch stilisieren und adeln, indem sie diese fälschlicherweise als allgemeine Fragen und Probleme benennen. Dennoch hat dieser Künstler uns wirkungsgeschichtlich viel zu sagen:
Nietzsche – Qualis Artifex!
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