Rezension

Ost, Ost, Ostdeutschland!

Sowohl beim Fußball als auch bei Dart-Turnieren irritierten Fans die Öffentlichkeit in den letzten Jahren, indem sie den Schlachtruf „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“ anstimmten. Es kommt darin ein Stolz auf das Anderssein in den Neuen Bundesländern zum Ausdruck. „Jammerossis“? Das war einmal.

Der Osten steht inzwischen für einen selbstbewußten Sonderweg. „Fachkräfte“-Märchen? Das glauben nur die „Besser-Wessis“. Wir wollten schon vor 2015 geschlossene Grenzen. Maulkorb und Impfzwang als Corona-Schutz? Darüber konnten wir nur lachen. Militärische Verteidigung „westlicher Werte“ in der Ukraine? Bitte ohne uns. AfD-Hochburg? Ja, klar!

Die „Ossis“ arbeiten also eifrig daran, einen negativen Begriff positiv umzudeuten. Diese Strategie ist aus dem Hip-Hop bekannt – zum Beispiel, wenn sich Frauen plakativ auf einmal selbst als „Bitch“ bezeichnen.

Leider leuchtet der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann diese Facette der Ost-Identität in seinem Buch über den Osten als eine „westdeutsche Erfindung“ nicht aus. Dennoch hat der bekennende Grünen-Wähler eine überaus wichtige Debatte angestoßen. Seine These lautet: Die Diskursmacht sitzt im Westen und wird dazu genutzt, um den deutschen, europäischen und außereuropäischen Osten als häßlich, rückständig, fremdenfeindlich und teilweise sogar barbarisch zu diskreditieren. Oschmann sieht hier eine Kontinuität von Hitler bis in die Gegenwart hinein.

Der Osten habe angesichts dieser Diskursmacht und Diffamierung nur eine Chance, eigene Probleme, Perspektiven und Ideen zu transportieren. Er muß Öffentlichkeit auf der Straße als „einzigem gesamtdeutschem Artikulationsraum“ herstellen. Das funktioniere, „weil das auch die Nazis ausnutzen, mit dem ebenso paradoxen wie fatalen Nebeneffekt, dass der Westen dies sofort als ungehörig und verhaltensauffällig brandmarkt“.

Ansonsten finden sich bei Oschmann viele Aspekte, die längst bekannt sind: Der Kampf „West“ gegen „Ost“ ähnelt der Auseinandersetzung zwischen globalistischen „Anywheres“ und heimatverbundenen „Somewheres“ (David Goodhart). West-Politik werde demzufolge „vielfacht nur für die gut ausgebildeten, deshalb mobilen und die Globalisierung vorantreibenden Eliten in den Großstädten gemacht“.

Von diesen Spitzenpositionen werden Ostdeutsche aber bis heute ferngehalten. In Wissenschaft, Verwaltung, der Justiz, den Medien und in Unternehmen belaufe sich ihr Anteil in der obersten Etage nur auf 1,7 Prozent. Der „gesellschafts- und wirtschaftspolitische Totalausschuss“ zeige sich darüber hinaus auch in unseren Museen. Trotz der herausragenden Leipziger Schule sucht man in westdeutschen Ausstellungen vergebens nach ostdeutschen Künstlern. Es sei bezeichnend gewesen, daß bei der Ausstellung „60 Jahre, 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2009“ kein „einziges Werk aus Ostdeutschland“ dabei war. Dies führe zu einer „kulturpolitischen Ghettoisierung“, so Oschmann.

Die „Westalgie“ bleibt freilich nicht nur auf den Mainstream beschränkt. Auch viele Konservative sehnen sich nach der guten, alten Adenauer-Zeit, in der noch nicht gegendert wurde und das „Wirtschaftswunder“ eine heile Welt suggerierte. Diese Position ist tatsächlich rückwärtsgewandt.

Ein vitaler Patriotismus, der auch begriffen hat, daß es heute nichts mehr bringt, den Wegfall der ehemaligen Ostgebiete zu bejammern, orientiert sich stattdessen an konservativ regierten Staaten in Osteuropa wie Polen und Ungarn. Und: Er freut sich darüber, wenn junge Leute in Fußballstadien „Ostdeutschland“ rufen.

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