Rezension

Panajotis Kondylis: Ein skeptischer Aufklärer

Der Bewunderer des sozialpolitischen Denkers Panajotis Kondylis (1943-1998), Falk Horst, brachte vor einigen Monaten einen gehaltvollen Sammelband heraus. Der Titel lautet: „Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft“.

Kennzeichnend für das Werk des verstorbenen griechischen Gelehrten, der in Heidelberg ein großes Stück seiner Lebenszeit verbrachte und der meist auf Deutsch seine begrifflichen Entwürfe ausführte, war sein auf Machtansprüche bezogener interpretativer Ausgangspunkt. Im Gegensatz zu anderen dem Moralisieren zugeneigten Ideen- und Sozialhistorikern hat Kondylis nie für das „Gute“ gekämpft. Zwar von der Aufklärung geprägt, hat Herausgeber Falk Horst recht, wenn er von einem Aufklärer ohne Mission spricht.

Kondylis zergliedert aufeinanderfolgende Weltanschauungen ausgehend vom Mittelalter, aber er packte seine Aufgabe möglichst wertfrei an. Er bezeichnete diese Herangehensweise als „deskriptiven Dezisionismus“, den er von wertbezogenen Auffassungen menschlicher Entscheidungen und Ansprüche abhebt. Und er benennt die Wissenschaftlichkeit, die er in seinen zur Reife gelangten Büchern verfolgt, als „Sozialontologie“.

In erster Linie ein Sozialwesen

Kondylis geht von der Grundannahme aus, dass das menschliche Wesen nicht von einer bestimmten Sozialbeziehung loszutrennen sei. Von seinem Standpunkt her ist der Mensch in erster Linie Sozialwesen, dessen Verhältnis zu Mitmenschen und zur Außenwelt durch seine Stelle in einer vorgegebenen Rangordnung zu berücksichtigen sei.

Zuallererst kümmert man sich um die Selbsterhaltung, die die Mitwirkung anderer voraussetzt und dann darum, seine Nische gegen Kontrahenten zu verteidigen. In seinem schmalen Band Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage (1984) nimmt Kondylis die kämpferische und machtstrebende Seite von zwischenmenschlichen Wechselwirkungen in den Blick.

Moralismus oder Nihilismus

Grundlegend für seine seitenreichen Bücher über die Aufklärung, den klassischen Konservatismus und das Zeitalter der planetarischen Politik ist seine Inanspruchnahme einer machtorientierten Auslegungsperspektive. Auch bei gelehrten Auseinandersetzungen und streng herausgebildeten theoretischen Arbeiten lässt sich so eine alle Anliegen prägende Kampfgesinnung feststellen. Der Wissenschaftler stellt seine These derjenigen seines Kontrahenten entgegen.

Die Aufklärungsdenker legten es darauf an, Natur und Sinnlichkeit gegen eine mittelalterliche Denkart geltend zu machen. Doch die ehemaligen Beteiligten gingen getrennte Wege, als die Frage aufkam, ob der Kampf gegen die verworfene Metaphysik in einer normativen Sittlichkeit oder in einem alles zerlegenden Nihilismus münden sollte. In zwei gegensätzliche Denkgruppen zerteilten sich die Aufklärer, die Verfechter einer Vernunftsmoralität wie Kant und Voltaire und nihilistische Materialisten wie Holbach und La Mettrie.

Die bürgerliche Gesellschaft, die die Kulturwelt der Aufklärung hochhielt, mußte einen Zweifrontenkrieg gegen den Konservatismus führen, der die Ideale einer vormodernen Sozialordnung wieder zur Geltung bringen wollte, und gegen die Massendemokratie, die für die Gleichheit und Austauschbarkeit der Menge eintritt. Ohne diese dialektische, kämpferische Stoßrichtung zu betrachten, meint Kondylis, sind aufeinanderfolgende Herrscherklassen und führende Ideologien kaum zu begreifen. Nur im Hinblick auf ein Gegenüber entwickelt sich der Einzelne gemeinschaftlich, seinsartig und begrifflich heraus.

Eine Synthese aus Marx und Carl Schmitt?

Die Sozialontologie und Sozialanthropologie von Kondylis wird normalerweise als eine einfallsreiche Verschmelzung der Gedanken Marxens und Carl Schmitts interpretiert. Verblüffend mag es sein, dass Kondylis Marx, aber bei weitem weniger Schmitt, als Vordenker anerkannte. Ebenso großzügig gestand er Reinhart Koselleck, mit dem er einen langjährigen Briefwechsel unterhielt, und seinem Doktorvater aus Heidelberg, Werner Conze, eine Einwirkungsrolle bei seiner Ideenwelt zu. Zusätzlich erwähnt er Spinoza, dessen-theologisch-politischer Traktat seinen Machtbegriff mitgestaltete.

Warum aber ging Kondylis mit Schmitt, dessen Freund-Feind-Denken  er teilt, fast stiefmütterlich um? Mag sein, dass Kondylis die Originalität seiner Begriffe unterstreichen wollte. Ebenso relevant, wie Horsts Sammelband klarmacht, wurde Kondylis zu seiner Jugendzeit radikalisiert, als er gegen die Regierung der Obristen in seinem griechischen Stammland aufgemuckt hatte.

Auf diese Jugendjahre ist die marxistische Prägung zurückzuführen, auch wenn der ausgereifte Denker kaum als Marxist oder als links orientiert einzustufen war. Die Fokussierung auf Geschichtsabläufe und sozial bedingte Leitkulturen weisen auf marxistisch angehauchte Schwerpunkte zurück. Klar ist aber, daß Kondylis wie Koselleck und andere führende deutsche Ideenhistoriker aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Schmitt beeinflusst wurden.

Daß Kondylis mit einem einspurigen oder übermäßig vereinfachenden Weltbild hantierte, ist eine geläufige Kritik an seiner anthropologischen und politischen Perspektive, die sich um die Selbsterhaltung und das Machtstreben des sozial angesiedelten Einzelnen dreht. Aber das setzt voraus, daß der Sozialforscher Kondylis ein Gesamtbild des politischen, gemeinschaftlichen und ideentheoretischen Handelns liefern wollte. Stattdessen kann sein Gedankengut herangezogen werden, um das menschliche Verhalten zu beleuchten und Erkenntnis über die menschliche Motivation in einzelnen Situationen abzugeben.

Kein Optimist

Bei all seiner Anhänglichkeit an die Aufklärung und die dazugehörigen Einsichten hat Kondylis keinesfalls das optimistische Zukunftsbild vertreten, das den Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts prägte. Er zählte zur Gesellschaft, die Zeev Sternhell und Isaiah Berlin als „les Contre-lumières” charakterisierten und die angeblich nichts Gutes im Schilde führten. Diese Grübler setzen die kritische Verfahrensweise der Aufklärung ein, um ihre Endvision zu hinterfragen und sogar zu entwerten.

Anders gesagt: Kondylis verstand seinen Lehrauftrag anders als die von ihm bespöttelten Moralisten. Außer dem Entscheidungstreffen sozial verorteter und motivierter Einzelner und Gruppen, die im Spannungsfeld mit anderen ähnlich bestimmten Wesen handeln, kann uns Kondylis kein Welt- oder Zukunftsbild anbieten. Zu seiner Ehre mahnt er vor den Schönfärbern, die unsere Freiheit wie unsere Nüchternheit abschaffen wollen.

Aus dem Kreis der BN-Autoren hat sich insbesondere Felix Menzel mit Kondylis beschäftigt und ein Zitat aus Macht und Entscheidung seiner Alternativen Politik vorangestellt.

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