Gesichtet

Schindluder mit den Werten der Aufklärung

Ich habe mir vor kurzem Alice Weidels Rede in Schnellroda angeschaut. Vorab: Es ist richtig und mutig, dass auch bürgerliche Leute den Dialog suchen. So ein Verhalten ist deutlich besser als die platte Feindschaft, die von Leuten wie David Berger kommt. Die Rede an sich war aber eine Aneinanderreihung von Klischees, die es erlaubte, fast jeden weiteren Satz im Voraus vorherzusagen.

Ein Aspekt davon ist mir besonders aufgefallen. Der Satz: „Wir brauchen eine Neue Aufklärung.“ Diesen Spruch hat man von Liberalen und bürgerlichen Konservativen schon seit über zehn Jahren ständig gehört. Erstens sehe ich das persönlich anders, da ich schon mit 16 die erste Aufklärung so schlimm fand, dass ich persönlich nicht unbedingt eine zweite brauche. Dann verstand ich auch nie, warum man die Philosophie dieser Zeit so überhöhen muss und den Rest unter den Teppich kehren will.

Zurück zur Tradition!

Warum ich den Spruch für ein übles rhetorisches Klischee halte, ist aber aus anderen Gründen. Das erste Problem ist: Ständig tauchen Leute auf und verlangen nach einer neuen Aufklärung. Aber in über zehn Jahren hat absolut keiner von denen gesagt, wie diese neue Aufklärung von statten gehen soll. Ich selbst habe in den letzten vier Jahren in über fünf Magazinen über 400 Seiten geschrieben, warum die Moderne schlecht ist, warum wir zur Tradition zurück müssen, und wie man das anstellen könnte. Die „Wir brauchen eine neue Aufklärung“-Fraktion hat in mehr als der doppelten Zeit nicht mal ein Fitzelchen darüber geschrieben, wie man das erreicht.

Dann ist es auch auffällig, wieviel von der Aufklärung diese Leute wirklich beachten. Wikipedia zählt auf Englisch unter „Enlightenment Philosophers“ 120 Artikel und in Deutsch sogar 200. Die bürgerlichen Autoren, die ständig davon labern, die Aufklärung retten zu wollen, beschäftigten sich meistens nur mit Locke, Voltaire, Kant und Jeremy Bentham. Manchmal auch mit anderen, aber es sind fast immer fünf Personen und fast nie mehr als zehn. Ergo beschäftigen sie sich, obwohl ihnen die Aufklärung angeblich so wichtig ist, mit höchstens einem Zwölftel der Aufklärung.

Selbstverschuldete Unmündigkeit

Bei manchen Politikern wirkt es sogar so, als würde sich deren Wissen um die Aufklärung nur auf Sapere Aude und den Satz „Die Aufklärung ist die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ beschränken. Sehr oft kommt von Politikern, die eine Rückbesinnung auf die Aufklärung fordern, nämlich nicht viel mehr als diese beiden Zitate. Und diese beiden Zitate kommen wiederum jedes Mal.

Wichtige Aufklärer wie Diderot, Descartes und Montesquieu werden von AfD, CDU und FDP, die sich zur Aufklärung bekennen, fast nie erwähnt. Genauso sprechen diese Personen nie über Kants Pflichtethik, weil die wahrscheinlich Wähler verschrecken könnte und seine Erkenntnistheorie. Sondern immer nur über ausgewählte Passagen aus dessen Text „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“.

Mit Jean Jacques Rousseau sind die meisten dieser politischen Möchtegern-Aufklärer sogar spinnefeind. Es gibt meistens keinen Philosophen, den sie weniger hassen. Siehe das Blog „Zettels Raum“ oder die Tatsache, dass die FDP Facebook Gruppe „FDP Liberté“ mal den Spruch „Voltaire statt Rousseau“ als Mem verwendete. Für diese Leute, welche die Aufklärung als die wichtigste Epoche der Philosophie ansehen, die unbedingt fortgeführt werden müsse, und die nur Gutes über die Welt brachte, ist der allerschlimmste Philosoph aller Zeiten ausgerechnet einer der bekanntesten Aufklärungsphilosophen überhaupt.

Allein schon, dass sie sich nur mit einem so geringen Teil der Aufklärung selbst beschäftigen, diese Aufklärung aber angeblich unbedingt bewahren wollen, wirkt so, als würden sich Leute wie Alice Weidel gar nicht wirklich für die Aufklärung interessieren, sondern sich stattdessen auf diese berufen, um selbst schlauer dastehen zu können.

Primat der Vernunft

Da die Aufklärung das Primat der Vernunft postulierte, dient so ein Verweis auf die Aufklärung wahrscheinlich dazu, sich selbst indirekt als besonders vernünftig und den Gegner als besonders irrational darzustellen.

Das merkt man überdeutlich in Reden wie der von Alice Weidel. Dort werden die Grünen meistens als Bekloppte dargestellt, die durch ihre Unvernunft und Dummheit die Werte der Aufklärung bedrohen würden, während AfD, CDU oder FDP als letzte Rettung des gesunden Menschenverstandes gelobt werden.

Dazu muss aber erstens gesagt werden, wenn die Werte der Aufklärung wirklich so bedroht seien, könnten solche Politiker sich nicht auf die Bühne stellen, mit ein paar Kant-Zitaten um sich werfen, eine neue Aufklärung fordern und damit dann auch noch völlig unkritisch den Beifall der Massen erhalten, obwohl sie außer dieser Forderung nichts weiter sagen. Dann ist die Aufklärung im öffentlichen Diskurs sowieso überrepräsentiert, während sich fast kein deutscher Mainstream-Denker öffentlich zu Heidegger oder Sartre bekennt.

Zum Thema der grünen Politik kann man auch nicht pauschal eine „Machtergreifung der Bekloppten“ postulieren. Ja. Wenn Soziologen 36.000 Geschlechter erfinden, Studentenaktivisten Debatten mit dem Argument, dies würde sie triggern und sonst wie sich schlecht fühlen lassen, dann ist dies ein Sieg der Unvernunft.

Recht auf ungesundes Essen?

Viele Forderungen der Grünen, z.B. dass der Staat ungesundes Essen bestrafen sollte, kann man aber wiederum mit Alain de Benoist als „therapeutischen Staat“ und damit als Form von totalitärer Vernunft bezeichnen. Viele dieser Liberalen und Konservativen, die sich wiederum über die Grünen aufregen und sich dabei auf die Aufklärung beziehen, setzen sich für ihr Recht auf ungesundes Essen, Alkohol etc. ein. Sie kämpfen also im Namen von Aufklärung und Vernunft für ihr Recht, die Vernunft ignorieren zu dürfen.

Auch viele Forderungen aus dem genderfeministischen Lager wie das Verbot angeblich sexistischer Werbung, sind Anwendungen von Immanuel Kants Forderung, dass der Mensch kein „Mittel zum Zweck“ sein soll.

Ironischerweise werden solche grüne Forderungen, die sich direkt aus Kants Ethik ableiten lassen, gerade von den Liberalkonservativen, die sich besonders gerne auf Kant und die Aufklärung beziehen, ebenfalls bekämpft. Deshalb hat dieses Schwarz-Weiß-Bild von wegen „Wir Liberalkonservativen, welche die einzig Vernünftigen sind, kämpfen im Namen der Aufklärung gegen den grünen Wahnsinn“ nicht sonderlich viel mit der Realität zu tun und ist nur ein rhetorischer Trick.

Um einen Gedanken meines letzten Artikels zur Ökologie aufzugreifen: Es fällt auf, dass es in diesen Diskussionen meistens von liberalkonservativer Seite nicht um die Verteidigung der Vernunft geht, sondern darum, den eigenen persönlichen Hedonismus als rational zu verkaufen.

Gute Aufklärung und böse Romantik?

Damit im Zusammenhang steht auch, dass solche Konservative auffällig oft dazu neigen, sich Fakten über die „gute Aufklärung“ und „böse Romantik“ so zurecht zu biegen, dass sie in ihr eigenes Weltbild passen. Ein bekanntes Beispiel war 2011 der CDU-Politiker Ansgar Heveling, welcher der Piratenpartei vorwarf, mit ihrer Kritik am Urheberrecht würde diese an den Werten der Aufklärung sägen. Er ignorierte vollkommen, dass die Berner Übereinkunft, einer der wichtigsten Verträge zum Urheberrecht, maßgeblich von Vertretern der Romantik/Gegenaufklärung verfasst wurde (u.a. Victor Hugo).

Anderes Beispiel: Immanuel Kant, der sich extrem rassistisch und homosexuellenfeindlich geäußert hatte, und der eine Sexualmoral vertrat, die deutlich strenger war als die der meisten Reaktionären und Traditionalisten, wird  ständig hervorgezogen, um für eine lockere Sexualmoral, Schwulenrechte und Antirassismus zu argumentieren.

Man muss zwar Philosophen auch Fehler und Aussagen zugestehen, die man selbst nicht gut findet. Die Leute, die z.B. sagen, man dürfe Heidegger wegen seiner „Schwarzen Hefte“ nicht mehr lesen, sind auch Vollidioten. Jedoch ist es intellektuell unredlich, so etwas total zu ignorieren und einem Philosophen das Gegenteil dessen, was er sagte, unterzujubeln.

Heutige Aufklärungsfans ertragen keinen Widerspruch

Alles in Allem muss deshalb gesagt werden, die ach so tollen Werte der Aufklärung werden wahrscheinlich nicht so sehr dadurch bedroht, dass einige Leute diese zu Recht kritisieren, sondern dadurch, dass zu viele Leute meinen, sich unter Berufung auf die Aufklärung wichtigmachen zu können, ohne sich wirklich für diese zu interessieren.

Man kann jetzt einwenden, dass man die doch labern lassen soll. Man selbst kann ja immer noch Heidegger, Evola etc. studieren und muss sich diese Leute ja nicht antun. Es gibt aber einen letzten Punkt.

Diese Leute, die sich auch in politischen Gruppen tummeln, labern zwar ständig davon, dass die Leute den Mut haben sollen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Sie selbst können es aber oft nicht ertragen, wenn man dann zu Meinungen kommt, die ihrer widersprechen. Wenn man ihnen widerspricht, antworten sie daraufhin sehr oft mit persönlichen Beleidigungen etc., statt sich argumentativ mit dem Gegner auseinander zu setzen.

Gleichzeitig wollen erstaunlich viele von denen einem erzählen, welche Bücher man lesen darf und welche nicht. Dabei zeigen solche „Liberalkonservativen“ dieselbe arrogante Selbstgerechtigkeit, die man sonst nur von linken Gutmenschen kennt.

(Bild: Kant)

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