Gesichtet

Wie reaktionär war die Aufklärung?

In einem früheren Kommentar beschrieb ich Panajotis Kondylis nach der Art seines Anhängers Falk Horst als „Aufklärer ohne Mission“. Horst versteht darunter schlicht und einfach: Während Kondylis eine aus der Auklärung abgeleitete kritische Stellung bezog, wies er die Traumbilder von sich, die einige – wenn nicht alle – Aufklärer ihrem Weltbild angehängt haben.

Als Kondylis seinen gezielt wertfreien Vorgang entwickelte, nahm er sich in acht vor einer optimistischen Zukunftsvision. Auf eine so gelagerte Trennung trifft man auch in seinem dicken Band Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (Stuttgart 1981).

Diese Verfahrensweise rüffelt linke Rechthaber. Sie sind überzeugt, dass jeder, der nicht fortschrittsbegeistert ist, reaktionäre Absichten hegt. Die lebendigen sowie schon hingeschiedenen Getadelten würden egalitäre Werte beiseite schieben, weil sie, so Zeev Sternhell und Jürgen Habermas, das menschliche Gute verschmähten.

Ethnische Unterschiede, irrationale Volkssitten und Vorliebe für Ordnung

Zu dieser Schurkengalerie gehören unter vergangenen Denkfiguren: Thomas Hobbes, David Hume, Comte de Buffon und Herder. All diese Vordenker der Moderne hielten sich nach besten Kräften an wissenschaftliche Methoden, aber landeten – von links aus betrachtet – auf verdächtigem Gelände. Aus ihrem Werk ergeben sich ethnische Unterschiede, die Verteidigung irrationaler Volkssitten und eine Vorliebe für eine strenge Obrigkeitsordnung.

Aufgrund dieser Abwege erhielten diese abweichenden Aufklärer schlechte Noten von den Fortschrittlichen. Das Unvermögen von Kondylis, sich zu einem verdienten Ansehen durchzuringen, entspringt seiner Distanzierung vom „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch). Gemeint ist der utopische Gärungserreger, für welchen unsere bekanntesten Fürsprecher der Aufklärung eintreten.

Die selbsternannte Partei des Fortschritts läßt dabei die Zwiespältigkeit und die Widersprüche der von ihnen verehrten Vordenker unbeachtet. Sie lehnen es ab, ihre Helden zu den herrschenden Werten eines vergangenen Zeitalters in Beziehung zu setzen. Vielmehr basteln sie für ihre Reformarbeit eine Ahnentafel zusammen, die alle bevorzugten „Vorgänger“ über einen Kamm schert. Wer dieser Verklärung widerspricht, büßt seinen Platz an der Tafelrunde ein.

Kant – ein Rassist?

Entgegen dieser Vorstellung haftet der Aufklärung eine Vielfalt von Denkansätzen an, die unsere fortschrittlichen Aufklärer kaum befriedigen könnte. Auch bei den typischen Vertretern des âge des lumières begegnet man pessimistischen und antifortschrittlichen Aspekten, wie sich bei Henry Vyverberg in Historical Pessimism in the French Enlightenment nachlesen läßt. Vyverberg prüft sein tragendes Thema nicht nur an Ausnahme- oder Zweifelsfällen, sondern auch an Galionsfiguren wie Voltaire und den um Diderot gescharten Enzyklopädisten.

Aufklärer, die eine Fortschrittslehre stark bezweifelt haben, waren keine Randständigen. Ebenso weitverbreitet bei diesen Vernunftmenschen war die Erstellung einer Ordnung hierarchisch systematisierter Ethnien – eine Übung, die bei den heutigen Gutmenschen Bestürzung bewirkte. Kant zum Beispiel sah in seiner Anthropologie die Farbigen als weniger entwickelt als die Europäer an.

Die meisten verstorbenen Aufklärer hätten sich also nicht besser als Kondylis den Schablonen unserer Fortschrittspriesterschaft angepaßt. Auch die Bestrebung, die Deutschen von ihrem Sonderweg wegzulocken, bezieht sich auf wählerisch ausgesuchte Fortschrittstraditionen, die einige Umerzieher ihren Landsleuten aufdrängen wollen. Ungelegen kommen indes Beweisstücke, die im klar zeigen, daß auch bei westlichen Vernunftmenschen „rückschrittliche“ Positionen mit Leichtigkeit zu finden sind.

Voltaire und die Demokratie

Zum Beispiel: Voltaire hat über die Demokratie die Nase gerümpft, die Juden anhaltend verspottet und Friedrich den Großen als den vernünftigsten Herrscher schlechthin verherrlicht. Des weiteren wollte der Verfechter der Naturrechte und des Sozialvertrags, John Locke, Atheisten und Katholiken von seiner erwünschten bürgerlichen Gesellschaft fernhalten.

In den von Locke verfaßten Grundverfassungen Carolinas (1669) besorgte dieser Aufklärungsvorbote den Siedlern einer gedeihenden, nordamerikanischen Kolonie die religiöse Toleranz zu verbriefen. Im nachfolgenden Jahrhundert konnte Voltaire kaum an sich halten, als er diesen englischen Freiheitsdenker rühmte, der die Glaubensfreiheit bis an Götzendiener und heidnische Indianer gewähren wollte.

Beachtenswert aber war Artikel 101 in derselben Urkunde, der dem Sklavenherrn eine unbegrenzte Macht über seine Untertanen zugestand. So durchschlagend war diese Befugnis, daß der Herr seine Sklaven ungestraft töten konnte. Damit wird bezweckt, auf eine Binsenwahrheit aufmerksam zu machen. Es ist eine vergebliche Aufgabe, wenn man versucht, die Denkfiguren einer zeitfernen Epoche mit unseren spätmodernen Wertvorzügen in Einklang zu bringen.

(Bild: Kant)

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