„Anabasis – der Zug der Zehntausend“. Die Überschrift gibt mehr über das Buch preis, als man sich vorstellen kann. Anabasis (Marsch oder Aufbruch ins Landesinnere): Ausflug in die griechische Geschichte, voller Unverständlichkeiten und Mythen. Zug der Zehntausend: Europäischer Heroismus in reinster Form.
370 Jahre vor Christus verfasste der griechische Soldat und Dichter Xenophon die Aufzeichnungen über ein schier unglaubliches Martyrium. Ungefähr dreißig Jahre zuvor, also um 400 v. Chr. sitzt nämlich besagter Xenophon, soeben noch ein edler Bürger ohne Befehlsmacht, ohne Essen, ohne Hoffnung und mit getöteten Führern mitten in der kleinasiatischen Wüste, in der heutigen Türkei. Wie konnte es soweit kommen?
404 vor Christus starb der persische Großkönig Dareios II. und vermachte die Krone an seinen Sohn Artaxerxes II. Der andere Sohn Kyros sollte lediglich Militärverwalter in der kleinasiatischen Provinz werden, was diesem, wie man vermuten kann, gar nicht schmeckte. Nach anfänglichen Querelen platzte Kyros schließlich der Kragen und er ließ ein Heer aufstellen, um seinen Bruder zu stürzen und selbst Großkönig des Achämenidenreiches, des altpersischen Großreichs, das von Makedonien in Europa bis an die Grenze Indiens reichte, zu werden.
Wo bekommt man die besten Soldaten her? Natürlich bei den Spartanern, zu denen Kyros schon länger ein gutes Verhältnis hatte. Ungefähr 13.000 spartanische Soldaten schlossen sich dem Aufstand an, sicherlich nicht ohne politische Hintergedanken, und zogen bei der Schlacht von Kunaxa (in der Nähe Babylons am Euphrat) gegen den persischen Großkönig.
Der größte Gewaltmarsch der Geschichte
Der Ausgang der Schlacht ist der Startschuss für den Zug der Zehntausend. Es entsteht eine seltsame Pattsituation. Kyros, der Putschist, wird in der Schlacht durch einen Streich getötet, seine persischen Truppen fliehen, werden getötet oder ergeben sich im Angesicht der „regulären“ persischen Streitkräfte. Ein historisches Motiv, dass bereits Ernst Jünger am Regelwerk des Schachspiels festhielt: Fällt der König, ist die Schlacht vorbei. Es gibt keinen Grund mehr, für die asiatischen Soldaten weiterzukämpfen. Wohingegen europäische Truppen sofort einen Nachfolger und Befehlshaber bestimmen und die Krieger womöglich noch verbissener kämpfen.
Zurück zum Geschehen: Die griechischen Soldaten, hervorragend ausgebildet und schwer bewaffnet, gewinnen ihren Kampf und ziehen in ihr Lager zurück, in der Erwartung ihren Sold zu erhalten, ein frohes Tagwerk vollbracht sowie Ehre erlangt zu haben, und wieder in die Heimat abzuziehen. Ihr Lager wurde allerdings von Truppen des Großkönigs zerstört, die verkünden, dass Kyros gefallen ist und die Griechen die Schlacht dementsprechend verloren haben und ihre Waffen abgeben sollen.
Das ungeschlagene Heer unter der Führung des Proxenes und des Klearchos akzeptiert dieses Ergebnis nicht und verweist darauf, wenn sie die Schlacht doch verloren haben, könnten sie ihre Schwerter und Speere nicht abgeben, da sie diese schließlich nicht mehr besäßen. Ein bewaffneter Grieche kann niemals eine Niederlage erlitten haben.
Durch Wüsten und Berge, über Flüsse und verschneites Hochland
Eingekesselt zwischen persischen Truppen und dem Euphrat beratschlagen die Führer und entscheiden sich mit ihrem Heer weiterzuziehen um sich mit Nahrungsmitteln versorgen zu können. Xenophon betont mehrfach die wahre Größe des Heeres. Auf 12.000 griechische Soldaten kommt nämlich ein Vielfaches an Dienern, Frauen, Kindern und Tieren. Das Märtyrium beginnt und der Tross zieht durch Wüsten und Berge, über Flüsse und verschneites Hochland, in Reichweite immer die persischen Soldaten, sie sich aber nicht trauen in einen normalen Kampf zu treten und deshalb mit Plänklern das Leben der Griechen schwermacht.
Irgendwann beschließen die Führer einen Handel mit einer persischen Delegation und es kommt was kommen musste: Der komplette Offizierskorps der Spartaner wird von den doppelzüngigen Persern verraten und enthauptet. Wer kann die Griechen, die zwar kopflos, aber noch immer diszipliniert und gerüstet sind, weiter kommandieren? Natürlich der Autor des Jahrtausendepos, Xenophon höchstpersönlich. Der erkennt die listigen Perser und führt den „Zug der Zehntausend“ weiter fort, stetig durch feindliches Gebiet, an der Grenze zum Hungertod, quälen sich die womöglich besten Krieger aller Zeiten durch die Steppen Assyriens und die kalten Gebirgspfade Armeniens, bis sie schließlich in die freundlich gesinnte Hafenstadt Trapezunt kommen.
Der zweite Führer, Cheirisophos, eine Art freundlicher Gegenspieler des Xenophons, beschließt aufzubrechen und einen befreundeten Admiral zu bitten, dieser möge mit seiner Flotte nach Trapezunt kommen und die müden Krieger einsammeln. Und wieder war es abzusehen: Die Schiffe bleiben aus. Und Xenophon beschließt weiter zu marschieren.
Ein Ausflug in verstaubte Welten
„Anabasis“ ist eines der beeindruckendsten Werke der griechischen Antike, das leider seinen Platz noch nicht, oder nicht mehr, im Kanon der Überlieferungen gefunden hat. Die Dominanz der „Illias“ und der „Odyssee“ werfen Anabasis eher unverdient auf die unbekannteren Ränge. Das Buch ist kurzweilig, was eher eine absolute Seltenheit für antike Geschichte ist, und, man kann es nicht anders sagen, einfach unglaublich spannend.
Dazu Detailreichtum und Witz, der auch in der deutschen Übersetzung (Paul Laskowsky, Limburger Verlagsanstalt) vorherrscht. Beispielsweise beraten die beiden Führer Xenophon und Cheirisophos, wer sich am ehesten auf den naheliegenden Berggrat stehlen könne, um die Gegner zu überraschen. Dies sei natürlich der Spartaner Cheirisophos, meint der Athener Xenophon, da in Sparta Diebstahl erlaubt sei und man Diebe nur deshalb bestrafe, wenn sie zu unfähig waren und sich erwischen ließen. Cheirisophos kontert: Man solle doch besser Xenophon zum Heraufstehlen losschicken, da die Athener Meister im Stehlen von Staatsvermögen seien.
Dazu kommen hunderte kleine Details über Denkart, Moral und Verhalten der Griechen. Beispielsweise war es Usus, dass bei schwierigen Entscheidungen nicht nur die Götter gefragt wurden, sondern auch innerhalb der Soldaten abgestimmt werden musste. Wohlgemerkt unter Spartanern, die nicht für ihre demokratischen Elemente bekannt geworden sind. Selbst der kleinste Laufbursche und Diener durfte den größten Führer jederzeit, selbst im Schlaf, wecken, wenn seine Sache dringlich war.
Zudem, so betont Xenophon an vielen Stellen, packen die Führer bei Aufgaben mit an und gehen mit gutem Beispiel voran. Sobald sich Soldaten über die Strapazen beschweren, übernimmt Xenophon die Aufgabe selbst, was den unwilligen Kriegern die Schamesröte ins Gesicht treibt und sie sofort mit doppelter Anstrengung weitermachen. Das alles sind in hohem Maße europäische Elemente und auf asiatischer Seite nicht denkbar.
Gerade der Gegensatz zu den asiatischen Völkern ist gekonnt dargestellt. Merkmal sind ein hohes Maß an Opportunismus, der auch die Bedeutung des eigenen Wortes überflügelt, ein quantitatives Denken gegenüber früheuropäischem Individualismus und eine gewisse Radikalität und Raffinesse. Auch das technische Niveau, nicht nur in der Ausbildung der Soldaten, sondern gerade in ihrer Ausrüstung, betont Xenophon regelmäßig. So beschreibt er akribisch die Bewaffnung und Behausungen der asiatischen Völker, die zum Zeitpunkt des Zuges häufig keine schmiedeeisernen Waffen besitzen, sondern mit Leder, Stoff oder Flechtwerk gewappnet sind.
Was bleibt von Xenophon?
Das Heer erlebt hunderte Herausforderungen, die sich kein Drehbuchautor besser ausdenken könnte, und kritische Stimmen könnten anführen, dass Xenophon sich an der Grenze zur Aufschneiderei bewegt. Aus historischer Perspektive erwähnenswert ist der zeitliche Abstand zwischen Geschehen und Aufzeichnung sowie die Problematik des heroischen Ich-Erzählers. Für die Griechen existierte ein heute schwer zu verstehender Begriff von Ehre. Ehre, als eine der höchsten Normen der attischen Gesellschaften, kann in „timé“ (????) und „kleos“ (?????) unterteilt werden.
„Timé“ kann als familiäres Ansehen oder ererbte Ehre (und Reichtum) übersetzt werden, wohingegen „kleos“ dem subjektiven Tatenruhm eines Mannes beschreibt. Zwischen diesen beiden Definitionen schwingt ein interessantes Wechselverhältnis. Die „timé“ ist einem Mann durch Geburt und Herkunft (Stand) ohne eigenes Zutun vorgegeben und dient als Grundlage für das Erlangen selbstverdienten „kleos“ unter Einsatz persönlicher Stärken.
„Kleos“ wiederum kann in die Familienehre „eingespeist“ werden und sich zu „timé“ wandeln, die wiederum dem eigenen Sohn die Grundlage schafft, neue Taten zu vollbringen und mehr „kleos“ zu erlangen. Plausibel ist deshalb, dass der zurückgekehrte Xenophon seinen Tatenruhm aufschrieb, zumal er in seiner Heimat Athen aufgrund seines persischen Söldnerdienstes und Unterstützung Spartas nicht gerne gesehen wurde, um seine Familienehre anzureichern und auf seine zwei Söhne zu übertragen.
Das hat Xenophon, auch wenn die Geschichte noch so ausgeschmückt ist, allein mit seiner Erzählung „Anabasis“ auf denkwürdige Weise geschafft. Nicht nur gab er seinen Tatenruhm an seine Familie weiter, sondern auch an die legendären Zehntausend, die Spartaner, die freien Griechen und nicht zuletzt die europäische Urgeschichte. Xenophons „kleos“, sollte auch nur die Hälfte der Erzählung stimmen, war so groß, dass er ausreicht 2.500 Jahre später circa 300 Millionen Europäer mit „timé“ zu versorgen. Zumindest ein klein wenig.
Übernahme ins 21. Jahrhundert
Die letzte Frage ist vielleicht die banalste, vielleicht aber auch die wichtigste. Wann kommt ein großes und vor allem reiches Filmstudio auf die Idee, den „Zug der Zehntausend“ neu aufzulegen. Dieses Buch muss verfilmt werden! Über Zack Snyders hollywoodreife Darstellung der „300“ kann man sicherlich geteilter Meinung sein, allerdings darf nicht vergessen werden, dass allein in Deutschland 1,5 Millionen Zuschauer sich das brutale Epos zu Gemüte führten.
Auch darf man davon ausgehen, dass ein großer Teil der Kinogänger und DVD-Käufer zum jüngeren, blutrünstigeren Publikum gehört, von denen die wenigsten die Geschichte um den Kampf an den Thermophylen kannten. Auf einen Schlag rief man einen der europäischen Gründungsmythen ins Gedächtnis einer jugendlichen Generation, der Kampf gegen die anbrandenden asiatischen Horden. Xenophons Anabasis hat mindestens das gleiche Potenzial.
(Bild: Schlacht bei Kunaxa nach dem Gemälde von Adrien Guignet)
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