Anstoß

Phänomenologie verlorener Räume

Massenmigration „schaffen wir“? Wie unser identitärer Kulturraum dabei verlorengeht.

Erst verschwinden die Bilder. Dann die Menschen. Sartre schreibt in seiner phänomenologischen Ontologie Das Sein und das Nichts, dass der Blick des Anderen uns als Person konstituiert, ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis, soziale Menschwerdung. Das gilt in analoger Weise für Räume, die unserem sie formenden Blick antworten durch den Wechsel der Bilder, aus deren Rückkopplung der Mensch eines Kulturraumes seine Identität bezieht. Unser Blick bejaht den Raum in seinem gewachsenen Sosein, der Raum schenkt uns seine Bilder, denen die Seele durch die Geburt in ein Volk wie durch einen Initiationsritus verbunden wird. Heimat, das bedeutet Identität, die wir in der Erscheinung unseres Kulturraums vorfinden.

Heimat ist eine Perspektive, ein gemeinsamer Blickpunkt, von dem aus ein Kulturraum gesehen und konstituiert wird. Im Zenit ihrer kulturellen Entwicklung stehend, haben große Völker ihren Raum ganz aus ihrem Genius geformt, wie die Athener ihre Polis und die europäischen Christen das Heilige Römische Reich. Ihre Kulturraumpflege war cultus. Mit dem Niedergang des cultus, der einsetzenden Verwahrlosung des Raumes, beginnt auch der Verfall eines Volkes. Raumgrenzen werden uneindeutig, äußere wie innere Feinde erwachen, und die verwaschene Bildwelt der Nachgeborenen erzeugt eine Erschlaffung, die keinen Gedanken an Abwehr aufkommen lässt. Es braucht keinen Kapitulationsakt, der Raum wird selbst amorph, die Bilder schwinden; andere Völker brechen in ihn ein, mit ihren Bildern und Träumen. Zuletzt erfolgt ein Ikonoklasmus gegen die alten Götter, dann gibt es einen neuen, völlig anderen, fremden Raum.

Phänomenologie im Bruch

Was drängt sich heute unserem raumschaffenden Blick auf, wenn wir über einen deutschen Großstadtboulevard flanieren; sind wir noch zu Hause in diesem ethnischen Eklektizismus? Noch kann man in jedem größeren Ort das Angelusläuten hören, doch man hört es verhalten, fast nicht ohne sich dabei schuldbewusst an die Brust zu schlagen, mea culpa, und sich bei dem Gedanken zu ertappen, wie lange es das noch geben mag.

Ob sich nicht bald der Schrei des Muezzins, der Gong eines Buddhatempels oder die wüste Furie einer Feme hineinmischen wird. Glockenklang hat etwas Unschuldiges und Erhabenes, doch ich nehme wahr, dass ich ihn mit dem Unterton einer Anklage höre: Warum gibt es euch überhaupt noch, ihr Christen? Dieselben Menschen, die sich von ihrem kulturellen Erbe wie von einer vertrockneten Nabelschnur getrennt haben und in den Bildern des Heilands in der Krippe einen furchtbaren Atavismus sehen, würden Minarette jeder Größenordnung tolerieren, allein um sich damit einen phallisch fundierten Ausweis ihrer hybriden Toleranz in den Hinterhof zu stellen.

Unser Raum ist keine frei verfügbare Marktfläche. Es ist der Ort, an welchem unsere Art zu sein eine Selbstverständlichkeit ist. Bilder von hoher symbolischer Erlösungsmacht wohnen ihm inne. Der Zyklus des Kirchenjahres verleiht ihm Struktur. Wir Deutsche benötigen keinen Opernführer, um die Quintessenz der Wagnerschen Meistersinger–Ouvertüre zu verstehen. Wie Thomas Mann über das Werk schreibt, in ihm wohnt deutscher Geist. Welches Schicksal droht unseren romantischen Vorstellungen, jenen Stimmungen, die Caspar David Friedrich unverwechselbar einfing, wenn sie der Bannstrahl des islamischen Bilderverbotes trifft? Nicht nur die Bilder verschwinden; es geht um unsere Art, Mensch zu sein.

Masse und Macht der „Neuen“

Emanuel Levinas sagt, dass wir im Anderen ein „Antlitz“ sehen, das ihn wie uns selbst zu menschlichen Personen macht. Was ist heute die typische Straßenszene: Eine Gang junger, viriler Nordafrikaner, uniformiert in der flüchtlingstypischen Einheitskluft von Levis und Jack-Wolfskin, die um einen Bahnhofszugang lungern. Ihre Blicke leer, dunkel, herausfordernd, manchmal sogar hasserfüllt. Sie lächeln nie. Sie scheinen keine Namen zu haben. Sie treten auf als kompakte Masse. Sprungbereit in ihren federnden Bewegungen. Wo ist ihr Antlitz, wo in der unverhohlenen Aggressivität strahlt etwas von der christlichen Idee der Gottessohnschaft durch, der wir in den großen Momenten der Renaissancemalerei begegnen? Ein Mensch, nicht ein Fordernder.

Nach Einbruch der Dämmerung in der Fußgängerzone: Junge, muslimische Paare, gutgekleidet, immer einen Kinderwagen dabei, die Frauen mit Kopftuch. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die islamische Kultur ist eine große Kultur mit langer Geschichte, das Kopftuch ein respektables religiöses Symbol. In unseren Straßen, in dieser Massivität, ist es eine Waffe. Manchmal wirken sie wie Patrouillen, die ein frisch besetztes Gebiet arrondieren.

Man ist schnell mit dem Vorwurf mangelnder Empathie. Als wären die uralten Bildräume, die emotionalen und mentalen Galerien der europäischen Völker, nichts als leer stehende Baracken, die sich im Handumdrehen zu riesigen Auffanglagern umwidmen lassen. Es existiert keine Sprache zwischen uns und den sogenannten „Neuen“; schon dieser Begriff in Orwellscher Diktion, als wären die en masse aus namenlosen Nestern der nordafrikanischen Wüste nach Europa drängenden Menschen nichts anderes als potentielle Deutsche mit keiner anderen als der hehren Absicht, unsere womöglich tatsächlich ausgebrannte Kultur zu bereichern.

Das mag in linken Ohren das defätistische Gejammer von Kulturpessimisten sein. Was ist denn schon groß passiert, fragt eine große deutsche Wochenzeitung sinngemäß. Die nervenden Zigeuner mit ihrem infernalischen, markerschütternden Geheul, das sie unter Musik verstehen und sie so begeistert, dass sie die ganze Innenstadt damit beschallen. Rempelnde Levantiner, die meinen, sich auf einem orientalischen Prachtboulevard zu bewegen, statt sich den hiesigen Gepflogenheiten anzupassen. Marginalien, könnte man meinen.

Unser 1453

Doch unser Blick hat sich verändert. Unsere Welt, wie sie war, ist uns genommen worden. Das ist mehr als der übliche historische Wandel. Es ist ein Identitätsbruch, wie ihn Friedenszeiten noch nicht sahen. Die Frage ist nicht abwegig, wie oft wir noch Weihnachten feiern werden, das „reaktionäre“ Christenfest, meine ich, nicht die multikulturelle Begegnungsmöglichkeit mit Glühwein und Falafel am Jahresende. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir in unserem Kulturraum von Identität sprechen, uns den gewachsenen Institutionen anvertrauen, ist verloren. Die unhintergehbare Selbstevidenz der Bilder, sie ist fraglich geworden, verfemt sogar, und lächerlich gemacht.

Um es mit einem Terminus Heideggers auszudrücken, wir Europäer sind „Unbehauste“ geworden, große, schwerfällige Minderheiten, die in verlorenen Räumen stagnieren. Die Massenmigration des Jahres 2015 ist irreversibel, unabhängig davon, wie viele noch kommen oder auch wieder gehen. Das ist unser 1453. Nur eine flüchtige Straßenszene, und wir erkennen, wie wir nie wieder sehen werden. Die Phänomenologie unserer verlorenen Räume steht unter dem Diktat fremder Kulturen, die sich einen Raum nach Europa formen werden. Er wird eine andere Sprache haben, nichts von der uns heute noch in Resten vertrauten Klarheit der abendländischen Formsprache. Der auf unseren Straßen tobende, vorerst noch stumme Krieg wird dieser Sprache ihren rohen Klang verleihen.

Bild: C. D. Friedrich: Hügel mit Bruchacker bei Dresden (1824)

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