Gesichtet

„Soll ich heizen oder essen?“

„Wir haben Menschen an den Tafeln, die uns diese Frage stellen“, sagt Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland e. V., gegenüber dem Nachrichtensender phoenix. Trotz der vor dem Hintergrund der extrem steigenden Energiekosten grassierenden Not hätten mittlerweile 82% der Tafeln einen Aufnahmestopp verhängen müssen. Auch weil erwerbsfähige ukrainische Flüchtlinge an die Tafeln drängen, die ohne Abklärung ihrer Vermögensverhältnisse Hartz 4 und damit den Zugang zu den Lebensmittelausgabestellen bekommen.

Angespannt ist auch das Gesicht von Rainer Häusler, des 1. Vorsitzenden der Frankfurter Tafel e.V. Im Gespräch kündigt er an, „eine nach der anderen Lebensmittelausgabestelle für Neukunden (‚aus den Frankfurter Reihen‘) dichtmachen zu müssen“. Die Lebensmittelspenden für die Frankfurter Tafel seien auch wegen der Spendenbereitschaft für die Ukraine um ca. 80 % zurückgegangen. So gingen zu Kriegsbeginn etwa 30 Lastzüge mit Lebensmitteln in die Ukraine. Lebensmittelreserven, die sonst für die Frankfurter Tafelkunden verfügbar gewesen wären, mussten abgegeben werden. Das eigene Vorsorgelager wurde angegriffen. Es stehe u. a. deshalb heute zu einem großen Teil leer.

Doch wo sollen die Lebensmittel herkommen? Zum einen setzen Supermarktketten zunehmend auf just-in-time-Lieferung und reduzieren durch moderne Prognosesysteme und automatisierte Bestellverfahren Verschwendung, so dass für die Tafeln weniger übrig bleibt. Die REWE Group auf Anfrage: „Mittlerweile verkaufen PENNY und REWE im Jahresdurchschnitt über 98 Prozent ihrer Lebensmittel.“ Zum anderen graben diverse Zusammenschlüsse von Lebensmittelrettern wie foodsharing e.V. mit über 300.000 Nutzern und „foodsavern“ in den deutschsprachigen Ländern und die millionenstarke Community Too Good To Go den Tafeln das Wasser ab. Die gleichnamige App vernetzt Restaurants, Bäckereien, Hotels und Supermärkte mit Verbrauchern, damit diese überschüssige Lebensmittel zu einem vergünstigten Preis abholen können. Rainer Häusler: „Bei den Lebensmittelrettern steht nicht die Bedürftigkeit der Menschen im Vordergrund. Es geht nur um ihren Eigenbedarf. Sie essen alles selbst.“

Dies alles vor dem Hintergrund, dass nach dem Paritätischem Armutsbericht 2022 letztes Jahr in Deutschland 13,8 Millionen Menschen einkommensarm waren: „Noch nie wurde eine höhere Armutsquote für das Bundesgebiet gemessen. Damit fügt sich auch das Jahr 2021 in einen besorgniserregenden Aufwärtstrend der Armutsquoten, der bereits 2006 eingesetzt hat.“ Also kurz nach dem Inkrafttreten von Hartz 4. Momentan arbeitet etwa jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte in Deutschland im Niedriglohnsektor, so viele wie in kaum einem anderen europäischen Land. So machen Geringverdiener neben Alleinerziehenden und Rentnern auch den größten Teil der regulären Tafelkundschaft aus.

Die Anfänge der Frankfurter Tafel

Obwohl die Frankfurter Tafel nach dem Rückzug der langjährigen Gallionsfigur Edith Kleber (der 2. Vorsitzenden) heute breiter und teamfähiger aufgestellt ist, hat sich die psychische und körperliche Belastung ihrer Helfer und Mitarbeiter zuletzt deutlich erhöht. Die Tafel fing 1995 winzig an. Die damals 75-jährige Hella Schmieder schmierte aus ihrem Esszimmer heraus Brötchen und verteilte Süßigkeiten. Im Laufe der Jahre stieß sie zunehmend in Bereiche vor, in denen es vorher keine Angebote gab, der Staat also eine Leerstelle hinterlassen hatte. Heute hat die politisch neutrale Tafel, die nicht als Teil des staatlichen Sozialsystems angesehen werden möchte, 14 Lebensmittelausgabestellen. Dazu beliefert sie 56 soziale Einrichtungen mit Essen, darunter: Stadtküchen, Wohnheime, Drogenhilfeeinrichtungen, das Mädchenhaus, Frauenhäuser, die Caritas mit einem Tagesaufenthalt am Zoo für Menschen in Wohnungsnot. All dies muss in Zeiten knapper werdender Ressourcen verteidigt werden.

Am nächsten Morgen stehe ich an der Essenstheke der oben aufgelisteten stadtteiloffenen Caritas-Einrichtung und bestelle zu meinem Schwarztee einen leckeren Walnusskuchen. „Nur 30 Cent für beides?“, wundere ich mich. Ich scheine an diesem Morgen besonders bedürftig auszusehen, denn die Dame vom Service legt gleich noch eine Banane dazu. „Nein danke, ich bin satt“, sage ich und gebe die Banane postwendend zurück. „Ich habe heute Morgen schon gefrühstückt.“

Also weiterhin heile Welt und Überfluss bei der staatlich gepuderten Caritas, die sich im Gegensatz zur Tafel aus der Sozialversicherung finanziert? Das nun auch nicht. „Backwaren gab es vor der Krise noch im Überschuss, hier merken wir den Rückgang am stärksten“, sagt der Koch. Insgesamt seien die Lebensmittelspenden für den Tagesaufenthalt um 50% zurückgegangen. Frisches Obst und Gemüse fehlten jetzt am meisten (…)

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