Der folgende Text entstand am Fuße des Berges Athos im Norden Griechenlands. Es waren Mönche aus einem der orthodoxen Klöster der mythischen Mönchsrepublik, die dem Autor dieser Zeilen vor vielen Jahren das Wesen des Antichristen enthüllten.
Die Charakterisierung als das perfekte Imitat Jesu Christi, das mit dem gleißenden Schein grenzenloser Güte alle hinter sich versammelt, um sie dann in den Abgrund zu locken, machte damals nachdenklich, mehr aber auch nicht. Heute, in Zeiten von politisierenden Kirchentagen, bei denen die One World-Doktrin inhaliert wird, wie der Hasch in Woodstock, in Zeiten abnehmender bzw. abgenommener Kreuze sowie Kirchen, welche die Political Correctness in den Rang einer theologalen Tugend erheben, bekommt diese Figur auf einmal Umrisse, die frösteln machen.
Der russische Religionsphilosoph Wladimir Solowjow (1853-1900) war gegen Ende seines Lebens vom Nahen des Antichristen derart durchdrungen, dass er eine kleine Erzählung über ihn verfasste, die bis heute seine Bekanntheit ausmacht und deren Hellsichtigkeit in Erstaunen versetzt.
Der Visionär
Er starb im Todesjahr Nietzsches, den er für einen gefährlichen Philosophen hielt, dessen Talent er aber unumwunden anerkannte. Im Gegenzug hielt er den deutschen Kaiser Wilhelm II. in der China-Krise für den weitblickendsten Politiker Europas. Er war mit Dostojewski befreundet, dessen russischen Messianismus er allerdings ablehnte. Er wollte einmal Mönch werden, wurde aber beinahe Katholik und arbeitete vor allem für die Einheit der Ost- und Westkirche. Wandergelehrter mit beachtlichem kulturellen Horizont und Kontakten bis hinein in die Aristokratie, Pilger, Narr in Christo, Visionär und Verrückter war Wladimir Sergejewitsch Solowjow eine Nischen-Gestalt der Geistesgeschichte. Aber eine originelle.
Sohn eines Historikers, von dem er den Kulturpessimismus seiner letzten Tage geerbt hatte, und einer Ukrainerin mit Hang zum Mystizismus, war er von den irrationalen Triebkräften der Geschichte fasziniert. Als Neunjähriger sei ihm während eines Gottesdienstes die göttliche Weisheit, die Sophia, erschienen, die fortan zu seinem Leitstern werden sollte. Sie ist, ähnlich der jüdischen Shechina, die weibliche Komponente in Gott. Geschichte war für ihn wesenhaft Heilsgeschichte, die sich freilich an viel Unheil würde abarbeiten müssen und der der Mensch ohne göttlichen Beistand überfordert gegenüberstand.
Sein Eifer galt der Wiedervereinigung der westlichen mit der östlichen Christenheit, die Gegenstand seiner Kontakte mit dem kroatischen, katholischen Bischof Josip Strossmayer, seinerseits ein Verfechter des (süd-)slawischen Nationalismus, waren. Ab 1888 rissen in Russland böswillige Gerüchte über seine heimliche Konversion zur römischen Kirche nicht mehr ab. Bis zuletzt verwahrte er sich gegen solche Behauptungen.
Sein bekanntestes Werk, die Kleine Erzählung über den Antichristen, war die Frucht seiner letzten Schau, in der er seinen Traum von der Einheit aller Christen sowie aller Menschen verwirklicht sah, allerdings unter dämonischem Vorzeichen. Der Drang, dies quasi als Warnung und Vermächtnis aufzuschreiben, war ihm eine sittliche Pflicht, nach deren Erfüllung er am 31. Juli 1900 starb.
Eine blendende Gestalt: Der Antichrist
Ganz aus dem Nichts waren seine Vision und ihre literarische Verarbeitung freilich nicht gegriffen. Sowohl in Schriften des Neuen Testaments findet man knappe Erwähnungen eines endzeitlichen Verführers, so in den beiden Johannesbriefen und in der Offenbarung (1 Joh 2, 22, 2 Joh 1, 7 und Offb 1,4), als auch bei den Kirchenvätern. Johannes von Damaskus (8. Jh.) etwa beschreibt ihn als einen Menschen, in dem die Wirkmacht des Teufels wohnt, der aber zunächst durch große Heiligkeit besticht und all jene, „deren Denken eine schwache, nicht eine starke Grundlage hat“ in die Irre führt.
Interessanterweise wurde von den Kirchenvätern des Ostens Mohammed als möglicher Antichrist bewertet, sah man den aufkommenden Islam doch zunächst als christliche Häresie an. Gemeinsam ist allen Beschreibungen die Betonung der Verführungsmacht, über die der Antichrist in besonderem Maße verfügt, setzt er sich doch in Habitus und Botschaft an die Stelle Christi (griech. Anti = an Stelle von). Auf dieser Tradition baut Solowjows Erzählung auf und überträgt sie in ein modernes Panorama. Sie bildet als eine Art Binnenerzählung den Schlussteil einer fiktiven Gesprächsrunde, zu der sich fünf Personen aus der russischen Oberschicht in Nizza zusammenfinden. Einer der Teilnehmer verliest ein Manuskript, das zur Hinterlassenschaft eines Mönchs mit Namen Pansofij gehörte (ein Alter Ego Solowjows).
Es entfaltet sich darin eine Geschichte, die mit vielen biblischen Anleihen operiert, ein apokalyptisches Szenario aufbaut und wie ein Bühnenstück wirkt, das mit reichlich aus den entsprechenden Bibelstellen bekannten Bühnenzauber ausgestattet ist. Daneben bietet sie Einblick in die Psyche eines größenwahnsinnigen Über-Gutmenschen, der es aber nicht gut meint. Dieser, der spätere Antichrist, von Solowjow u.a. auch „Mensch der Zukunft“ genannt, taucht in einer allgemeinen Krisensituation auf (erschöpfend ist die Beschreibung der Gefahren aus dem Erstarken Ostasiens), der alles Schöne und Gute in sich zu vereinen scheint, der aber von dem Ehrgeiz besessen ist, den biblischen Erlöser Jesus in den Schatten zu stellen.
Wohltäter der Menschheit?
Seine Berufung zum angeblichen Wohltäter der Menschheit empfängt er durch eine übersinnliche Vision, die eng an das Tauferlebnis Jesu aus dem Neuen Testament angelehnt ist. Eine schemenhafte Figur spricht mit seelenloser Stimme die Worte Gottes nach: „Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe“. Ausgestattet mit dieser Bestätigung von oben, glaubt er nun, das vermeintliche Scheitern Jesu am Kreuz endlich aus der Welt räumen zu können. Die internationale Großwetterlage begünstigt seinen beginnenden Siegeszug als „populärsten aller Menschen“. Eine Versammlung des Bundes der europäischen Staaten (wer denkt nicht an die EU?) wählt diesen Charismatiker schließlich zum lebenslänglichen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa.
Wenig später erfährt er gar eine Rangerhöhung zum römischen Kaiser. Nun gibt es kein Halten mehr. Nachdem die Politik befriedigt ist, wendet er sich den ungelösten Kirchenfragen zu und beruft ein Konzil im eigens dafür errichteten „Kaiserlichen Tempel zur Vereinigung aller Kulte“ ein. Dieser Koloss erhebt sich ausgerechnet unweit der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem. Unter der Hymne „Marsch der einigen Menschheit“ wird das Konzil feierlich eröffnet.
Humanistische Kollektivierung
Hier aber stößt er zum ersten Mal auf Widerstand gegen seine humanistische Kollektivierung. Jeweils ein Repräsentant der katholischen, orthodoxen wie protestantischen Kirche verweigert sich dem Trend, der die Mehrheit der versammelten Christen fortreißt. Im Namen des totgeglaubten Jesus verweigern Papst Petrus II., Staretz Johannes sowie Professor Pauli den Gehorsam. Die beiden erstgenannten sterben noch während des Konzils, während Pauli mit den wenigen unbestechlichen Christen Jerusalem in Richtung Jericho verlässt.
Was folgt, ist die Katastrophe, die wieder streng nach biblisch entlehnter Regieanweisung abläuft. Kurz vor einem finalen Armageddon gegen ein jüdisches Heer, das den Führungsanspruch des neuen Messias ebenfalls nicht anerkennen will, öffnet sich die Erde und verschlingt den Frevler mitsamt Anhängerschaft in einem Flammensee. Die treuen Anhänger werden zusammen mit den Juden zu Zeugen der Wiederkunft des echten Erlösers, der auch die Verstorbenen auferweckt.
„Was nennst Du mich gut?“ (Mk 10, 18 bzw. LK 18, 19)
Am Ende der Erzählung steht die ungläubige Frage einer Gesprächsteilnehmerin, der Antichrist sei doch im Grunde gut gewesen, worauf der Vorleser antwortet, „eben nicht im Grunde“. Bis zu diesem Grund zu blicken, fällt vielen Menschen schwer, vor allem heute, in Zeiten rasanter Oberflächlichkeit. Heute tritt der Versucher nicht in einer (einzelnen) Gestalt auf, wie es zum biblischen Verständnis gehört oder wie er in Goethes Faust personifiziert ist, sondern wird als herrschende Idee, gleichsam als Zeitgeist spürbar.
Gleichwohl muss jede Versuchung überzeugen, um wirksam werden zu können. Dazu braucht sie den Anschein des Guten, so wie der leblose Virus den lebendigen Wirt braucht, um sein Programm ablaufen zu lassen. Um dieses Wesen der Versuchung, das letztlich zum Wesen des Bösen gehört, wusste bereits die Welt der Bibel. Jesus selbst warnt mehrfach vor falschen Propheten, Gesalbten und Heilern, die auch Gläubige wie Rattenfänger hinter sich herziehen können.
Sein Vorwurf an Petrus, der in einem unbewussten Augenblick dem Satan seine Stimme geliehen hatte, nicht das zu wollen, was göttlich, sondern eben nur, was menschlich sei (Mt 16, 22-23), macht die Ambivalenz des Bösen deutlich. Gott ist eben nicht „menschlich“ und kann den Menschen sogar vor Forderungen stellen, die nicht konsensfähig oder einfach nur ethisch akzeptabel sind. Andernfalls wäre der Kreuzestod Jesu nicht vermittelbar. Das zu erkennen, erfordert ein geschliffenes Gewissen, eine tiefe Selbstreflexion und einen radikalen Glauben, der sich kaum mit den Versicherungspolicen religiöser Institutionen und dem daraus folgenden allgemeinen Herdentum verträgt.
Und so erregte die Heuchelei eher den Zorn Jesu als der Gesetzesbruch. Denn wer seinen Schatten kennt, ist nicht nur existenziell von Gottes Barmherzigkeit abhängig, sondern ist auch eher gefeit vor zu grellem Licht, das die „Guten“ zu blenden droht.
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